Hauptbild
HAUS © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2022
HAUS © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2022
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Vom Grundrauschen der Welt – Sarah Nemtsovs „Haus“ auf der RuhrTriennale

Publikationsdatum
Body

Es ist fünf Jahre her, als Komponistin Sarah Nemtsov (*1980) an der Oper in Halle mit ihrer kompositorischen Vorlage für den Opernvierakter „Sacrifice“ Furore machte. Der Text stammte von Dirk Laucke und verhandelte das Abgleiten von zwei jungen Mädchen aus Sachsen-Anhalt in die Fänge des sogenannten IS. Ein Stück packenden Musiktheaters, das alle Register einer eigenwilligen Novität zog, keinerlei platter Agitation bedurfte und dennoch bei der Kritik und beim Publikum gleichermaßen zündete. Florian Lutz hatte dieses exemplarisch aktuelle wie hochpolitische Stück in einer spektakulären Raumbühne inszeniert. Auch damit war es ihm gelungen, das von ihm geleitete Haus (zumindest für ein paar Jahre) zu einem der innovativsten Opernhäusern des Landes zu machen. Tempi passati.

Wie damals ist auch jetzt bei der Uraufführung von „Haus“ in der Turbinenhalle neben der Bochumer Jahrhunderthalle das Publikum gleichsam dynamisch in die Rezeption einbezogen. Das, was Heinrich Horwitz (Regie und Raum), Rosa Wernecke (Raum, Video, Licht), Magdalena Emmerig (Kostüme) und Paul Jeukendrup (Sound Design) hier umgesetzt haben, firmiert unter der Genrebezeichnung einer musiktheatralen Raumperformance. Genau das ist es in der Tat. Eine für diesen speziellen Raum maßgeschneidert entworfene bzw. angepasste Klangwelt.

Aus dem Jahr 2013 stammen „Zimmer I-III“, eine Schichtung für verstärkte Harfe, Kaospad, Bassflöte und Bassklarinette, „drummed variation für kein Drumset und Kaospad“ aus dem Jahr 2014. Das titelgebende „Haus“ für verstärktes Quartett aus präparierter Harfe, Bassflöte, Bassklarinette, Perkussion und Live-Video kam 2017 hinzu; die „Tür“ für Pseudo-Drumset solo 2020. Aktuell folgten diverse Anbauten wie „Keller“, „Flur“ und das Synthesizer-Solo „Halle“. Bleibt man bei der Titelmetaphorik klingt das Ganze eher nach einem träumend erlebbaren Luftschloss, als nach bewohnbarem Haus. …

Vor der Turbinenhalle gibt es zunächst einen Prolog von Heinrich Horwitz. In ihrer harmlos-bunten Uniformierung steuern die beiden Performerinnen Valeria Kafelnikow und Susanne Peters diesen Part in Deutsch und Englisch gesprochen bei. Dabei wird die Haus-Metaphorik von der offenkundigen – den Spielstätten der RuhrTriennale seit ihrer Gründung sozusagen eingeborenen – Transformation einer mit Historie gesättigten Industriegeschichte in eine neue, reflektierende Gegenwart der experimentierenden, grenzüberschreitenden Kunstproduktion und Aneignung, in die Dimension einer Körpermetaphorik überhöht. Um bei der Gelegenheit bislang geltende Gewissheiten wie die ererbte Geschlechterzuweisung menschlicher Wesen in Frage und sich auf die Seite der Aktivisten zu stellen, die die Geschlechterzugehörigkeit neuerdings mit Vehemenz einer freien Willensentscheidung zugeordnet sehen wollen. Dieser „Überbau“ ist eher eine Melange aus Dramaturgenlyrik, die sich für das Sahnehäubchen bei der Bubble-Schaumschlägerei einer eloquenten Minderheit bedient, die mit ihrer Hysterie, immer zugleich die reaktionäre Gegenbewegung mit befeuert. All diese Trans-, *- und Queer-Rhetorik bleibt dann aber, wenn es durch einen schmalen Eingang in die Turbinenhalle hineingeht, draußen vor der Tür und auf dem Programmfaltblatt. Die Fähigkeit von Sarah Nemtsov, einen Raum mit Klang zu füllen und dafür ihren ganz eigenen Weg zu finden, übernimmt dann zum Glück für den eigentlichen Abend das Zepter. Sie wird sozusagen zum Hausherren bzw. in dem Falle tatsächlich zur Hausfrau. Wobei die semikorrekte „Hausherrin“ das Ganze besser treffen würde…

Wie dem auch sei – was dann in dem alten Gemäuer passiert und entfesselt wird, das funktioniert, entfaltet Intensität, bietet trotz eines anhaltenden Grundströmens Abwechslung, langweilt nicht. Ein von der Kette gelassener Klangrausch, der Assoziationsräume öffnet, vor allem aber auf der (Selbst-)Reflexion des Komponierten und der eigenständigen Kraft einzelner Instrumente beruht. Die ausdrückliche Warnung vor gelegentlicher Überlautstärke war freilich dennoch etwas übertrieben. 

Man könnte das Ganze auch als eine Art aus der Form geratene, in einer Halle explodierende Kammermusik umschreiben. Vier instrumentale Solisten, Laurent Bruttin (Klarinette), Valeria Kafelnikov (Harfe), Susanne Peters (Flöte) und Jonathan Shapiro (Perkussion), versuchen immer wieder, in der Verfremdung durch Elektronik und Synthesizer für die Sebastian Berweck sorgt, den Ton anzugeben und die Richtung des Klangstromes zu bestimmen. Aus diesem Wechselspiel entsteht eine ganz eigene, den Raum füllende und jeden – zunächst sich frei im Raum bewegenden – Zuschauer umspielende, packende Wirkung. 

Die Zuschauertribüne ist da noch von einem Tuch bedeckt, das von einer riesigen Hand immer wieder fast zärtlich gestreichelt wird. Wenn das Tuch dann beiseite gezogen und in die Hintergrundprojektionen einbezogen wird, ist die Aufteilung zwischen Zuschauern und Akteuren für den Hauptteil des Zweistundenabends klassisch-konventionell. 

Nachdem die Zuschauer ihre Plätze eingenommen haben, sitzen jeweils zwei Performer in einem imaginären Zimmer, das von einem Quadrat aus Lichtstreifen begrenzt ist. Im Hintergrund wird die riesige Turbine von einem Video überblendet. Sie wirkt jetzt wie ein Palast oder eine geheimnisvolle Ruine, aus der sich ein Wasserfall zu ergießen scheint und in einem wie das Universum funkelnden See mündet. Wenn sich das Klangrauschen auf wuchtige Schläge oder eine Art Grundrhythmus konzentriert, und den evozierten Eindruck von solistischem Improvisieren überlagert, dann kann man seine Assoziationen sowohl in Richtung der eskalierenden „Parsifal“-Gralsglocken als auch in die von Maschinengeräuschen oder Schiffssirenen abschweifen lassen, um dann wieder bei der Selbstbehauptung der Instrumentengruppen zu landen. Für den letzten Teil des Abends führen die Performer die Zuschauer wieder auf den Vorplatz, lösen damit die formale Gegenüberstellung zu den Performern wieder auf und setzen am Ende nach einem furiosen Perkussionssolo einfach einen Punkt. Hinter ein musikalisches Abenteuer ohne klassische Erzählung, hinter den Besuch in einem Luftschloss aus Klängen und Assoziationen. Das Ganze spielt zwar nur mit unserer Erinnerung an ein Haus vom Keller bis zum Dach. Zum Glück besteht bei Luftschlössern keine Einsturzgefahr.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!