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Spießer, Judith, Meić, Matija, Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Marie-Laure Briane
Spießer, Judith, Meić, Matija, Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Marie-Laure Briane
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Vom Sieg großer Kunst – Eine Münchner Fassung von „Hoffmanns Erzählungen“ im Gärtnerplatztheater

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So viel Szenenapplaus war in den letzten Jahren in beiden Münchner Opernhäusern nie. Denn Anthony Bramall (Dirigat), Stefano Poda (Regie, Choreographie, Bühne, Kostüme, Licht, unter Mitarbeit von Paolo Cei), Pietro Numico (Chor) und Michael Rinz (Dramaturgie) haben aus der – seit rund 140 Jahren - schwierigen Notenlage eine in sich konsequente Münchner Fassung erarbeitet und fesselnd realisiert.

Das Haus am Gärtnerplatz hat eine eigene kleine Tradition bezüglich des Werkes. Schon 1889 fand die Münchner Erstaufführung nicht im großen Hof- und Nationaltheater statt, sondern wie es sich für ein zwar „Fantastische Oper“ betiteltes, aber mit seinen gesprochenen Dialogen dem Genre „Opéra comique“ zuzurechnenden Werk gehört: im „Kleinen Haus“. Aus der langen Aufführungsgeschichte ragte dann 1966 die dramaturgisch beeindruckende Bearbeitung von Intendant Kurt Pscherer heraus: die von der Muse gerahmte und geformte Handlung besaß außerdem in Anton de Ridder einen nach heutigen Maßstäben „Weltklasse-Tenor“. Dann folgten die Jahre der Entdeckungen von Werkteilen und Noten. Wiederum das „Staatstheater am Gärtnerplatz“ war es 1995, das die deutschsprachige Erstaufführung mit dem von Michael Kaye neu edierten 4.Akt und dem von Josef Heinzelmann nach dem Zensurbuch von 1881 übersetzten deutschen Dialogen herausbrachte. Also hoher Erwartungsdruck – noch dazu, wenn die gesamte Bühne einem Multitalent anvertraut war.

Die Erzählungen des Dichters Hoffmann von seiner unglücklichen Liebe zum Sopranstar Stella, die Züge des Püppchens Olympia, der Sängerin Antonia und der Kurtisane Giulietta vereint, sind ja Ergebnis zweier Arbeitstiere: der damaligen Multitalente E.T.A. Hoffmann und Jacques Offenbach, die schrieben, komponierten und aufführten. Diese Arbeitswut und -belastung visualisierend besteht das zum Publikum offene Raumgeviert aus unzähligen, hellen Manuskript-Seiten. Darin viele hohe, aber leere Glasschaukästen. In deren Mitte fährt der dunkle Weinkeller Luthers hoch, in dem Hoffmann an einer kleinen Schreibmaschine sitzt und für seinen lese- und sensationshungrigen Freundeskreis Seite für Seite produziert – seiner Alkoholsucht entsprechend auf schiefen Möbeln: aus dem Lot wie sein Inneres.

Zu seinen Liebeserinnerungen versinkt der Keller und im vernebelt-phantastischen Blaulicht bleiben die fünf mal fünf musealen Schaukästen sichtbar: wie aufgehobene, aufgesplitterte Erinnerungen jetzt beschriftet mit literarischen und musikalischen Werktiteln, wirr kreisend auf der Drehbühne, auf der Hoffmanns Widersacher und Gesellschaft in phantastisch zwischen „Schwarzer Romantik“ des 19.Jahrhunderts und „Haute-couturisch“ gestylten Kostümen auftauchen und verschwinden.

Zurecht holte Total-Inszenator Poda am Ende Chordirektor Numico mit in die erste Reihe: gespenstisch wandelnd, irgendwie geisterhaft bleibend, aber mal hämisch, mal wuchtig, mal sanft atmosphärisch „räumlich“ trugen er und der Chor des Hauses zu den Klangreizen der Gesamtleistung bei. Olympia ist eine von neun äußerlich völlig identischen Avatar-Puppen, deren Konstruktion noch im roten Gitternetz-Kostüm angedeutet wird; sie bewegen sich nur minimal und aus den fast synchron bewegten Mündern bleibt anfangs unklar, welche von ihnen da singt ... irreale Welt schon hier.

Zum Stimmwunder Antonia in schwarz glitzernder Abendrobe sind alle Schaukästen mit identischen Abbildern und Lebensdaten der größten Sängerinnen der Operngeschichte gefüllt, von Bordoni über Colbran, Melba zu Schwarzkopf, Sutherland, Tebaldi, Callas, Caballe „u.v.a.“ bis zu Gruberova; auch Antonias Mutter ist als „Angelina de Angeli“ mit dem Todesjahr 2022 vertreten – und als sich Antonia „de Angeli“ zu Tode singt, klebt Dr. Mirakel auch bei ihr ein „2022“ auf ihren Schaukasten.

Ins kreisende Edelbordell Giuliettas werden die Glaskästen für die käuflichen „Begleitladies“ in silbernem Gitternetz-Glitter nur noch mit Nummern hereingeschoben … alles ein Abbild, wie Hoffmanns wirre Psyche „Ordnung“ versucht – bis endlich der ihn durch all dies begleitende Niklas ihm den bislang schwarzen Mantel des Intellektuellen abstreift, ihn hell weiß wie eine kommende Marmor-Statue einkleidet und aus dem Bühnenhimmel zur phantastischen Schlussmusik des „groß durch die Liebe, größer durch den Schmerz“ eine Ahnung von Genugtuung regnet: die unsterblichen Seiten der Werke „Hoffmann und Offenbach“. Viele feinsinnige Details ergänzten und füllten diesen ästhetisch-abstrakten Lebenstaumel. Ein visuell und dramaturgisch dichter, überzeugender Blick auf ein grandioses Werk.

An all dem entzündete sich Szenenapplaus, vor allem aber an der zupackenden Musizierweise Anthony Bramalls. Er hatte die Umstellung der ohnehin umstrittenen „Spiegel-Arie Dapertuttos“ in den Olympia-Akt, jetzt als „Augen-Arie“ des gefährlich-obskuren Coppelius mitgetragen sowie die Streichung des zwar fetzigen, aber eben nicht ins Werk gehörenden Septetts. Wohl als Kompromiss für spätere, wechselnde Besetzungen und deren Sprachkenntnisse hatte das gesamte Produktionsteam sich für die gesungenen Rezitative statt deutscher Dialoge entschieden. Als reizvoll erwies sich die Entscheidung, Olympias Couplet „Les oiseaux“, Antonias „Tourtourelle“-Romanze und das „Chanson d’amour“-Duett mit Hoffmann sowie die Barcarole im französischen Original singen zu lassen. All das gelang dank glänzender Sängerdarsteller*innen: Ilja Staples faszinierend automatenhafte Olympia-Koloraturen, Jennifer O’Loughlins emotionaler Antonia-Schöngesang, Camilla Schnoors kühl lockende Giulietta-Töne, Mathias Hausmanns dunkel elegante Bösewichte, Anna-Katharina Tonauers schön stetiger Beistand als Niklas und final erlösende Muse, durchweg überzeugende Porträts der Nebenfiguren – alle  gezielt mehrfach taumelnd und irrend und fallend im irrealen Drehwirrwarr – am Ende gipfelnd im Bravo-Sturm für den mal lyrisch im tragenden Piano und mal viril mit kräftig leuchtender Höhe durchweg überzeugenden Lucian Krasznec in der Titelrolle: ein Ringender von Gestern wie von Heute. Diese seine gar nicht musealen, durchweg musikalisch dramatischen „Erzählungen“ müssten ein Repertoire-Renner werden.

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