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Das in seiner Besetzung nach Bedarf immer wieder wechselnde Nimrod-Ensemble in der Marktkirche Hannover: (v.l.) Michael Cohen-Weissert (Klavier), Christophe Horak (Violine), Oscar Bohórquez (Violine), Kantor Isidoro Abramowicz (Gesang), Nur Ben Shalom (Kla
Das in seiner Besetzung nach Bedarf immer wieder wechselnde Nimrod-Ensemble in der Marktkirche Hannover: (v.l.) Michael Cohen-Weissert (Klavier), Christophe Horak (Violine), Oscar Bohórquez (Violine), Kantor Isidoro Abramowicz (Gesang), Nur Ben Shalom (Kla
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„Wer spricht oder singt, der lebt!“ – Konzert zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ in Hannover

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Rache ist in unserer Zeit ganz sicher nicht die richtige Antwort auf die Verbrechen des Holocaust. Der jüdische Klarinettist Nur Ben Shalom findet mit dem Programm „Lebensmelodien“ eine typisch jüdische Antwort auf diese Rachegedanken. Er gibt den Verstorbenen wieder eine Stimme, läßt sie mit den Mitteln der Musik neu zu uns sprechen. Das Ergebnis: wer spricht oder singt, der lebt!

Es ist ein seltenes, seltsames und irgendwie falsches Bild, das sich dem Betrachter darbietet. Ein Polizeiwagen steht vor der Kirche und einer der beiden Beamten bestätigt auf Nachfrage: „Ja, wir sind wegen der Veranstaltung in der Kirche hier“. Donnerstagabend, Marktkirche Hannover, die Veranstaltung in der Kirche ist ein Konzert, das sehr gut besucht ist.

Es ist der 26. Januar 2023, es ist Vorabend des „Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, der sich in diesem Jahr zum 78. Mal jährt. Das Konzert, das die Villa Seligmann, das Haus für jüdische Musik in Hannover, und der evangelisch-lutherische Stadtkirchenverband aus diesem Anlaß veranstalten, hat mittlerweile eine lange Tradition. Jedes Jahr sind wir, so Eliah Sakakushev-von Bismarck, der Direktor der Villa Seligmann, „auf der Suche nach neuen und adäquaten Formen des Gedenkens“. Dier Kirche ist voll – viele jüdische Mitbürger sind gekommen, auch Abgesandte der Moschee und natürlich Christen aus Hannover und der Region. Man kennt sich, man duzt sich und die Atmosphäre ist über Religionsgrenzen hin freundschaftlich, teilweise familiär. Draußen noch immer der Polizeiwagen.

„Lebensmelodien“ heißt das Programm, das von dem in Berlin beheimateten Nimrod Ensemble dargeboten wird. Der Abend stehe unter keinem Motto und habe keinen bestimmten Charakter, erzählt Nur Ben Shalom, der künstlerische Leiter des Nimrod Ensembles, in einem Interview einige Tage vor dem Konzert. Er sei vielmehr ein Mix aus allerlei unterschiedlichen Stimmen zwischen Deutschland und Italien. Wie ein Puzzle werden die zehn Stücke, wie Ben Shalom sagt, ein „großes Bild von damals“ ergeben. Es wird ein Konzert des Gedenkens und Erinnerns werden – keine Frage. „Aber“, so sagt Ben Shalom; „am Ende ist es einfach auch nur gute Musik!“

Was sind „Lebensmelodien“ – welcher Gedanke steht hinter diesem Titel? Für den Klarinettisten Ben Shalom steht hinter diesem künstlerischen Konzept ein Brief, den es schon als sechsjähriger Junge erstmals gelesen hat, im Mittelpunkt. Ben Shalom erinnert sich, dass es in Israel normal war, von Holocaustüberlebenden umgeben aufzuwachsen. Ständig war man mit den Geschichten und Zeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert.

„Meine Teuren! Bevor ich von dieser Welt gehe, will ich Euch meine Liebsten einige Zeilen hinterlassen. Wenn Euch einmal dieses Schreiben erreichen wird, bin ich und wir alle nicht mehr da. – Unser Ende naht. Man spürt es, man weiß es. Wir sind alle, genau so wie die schon hingerichteten, unschuldigen, wehrlosen Juden zum Tode verurteilt. Der kleine Rest, der seit den Massenmorden noch zurückgeblieben ist, kommt in der allernächsten Zeit (Tage oder Wochen) an die Reihe. Es ist schauderhaft, aber wahr. Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen.“ Diese Worte schreibt die jüdische Pianistin Salomea Ochs Luft 1943 an ihre ihre Familie in Israel.

Mit den Worten „Lebt wohl, lasset es Euch recht gut gehen und wenn Ihr könnt, dann nehmt einst. RACHE!“ endet der Brief. Diese Aufforderung, Rache zu nehmen, begleitet Ben Shalom – als Holocaustüberlebenden der dritten Generation – nun schon sein ganzes Leben. Denn Ben Shalom ist nicht nur Klarinettist und künstlerischer Leiter, er ist auch der Großneffe von Salomea Ochs Luft und so ist der Brief letztlich auch an ihn adressiert. Rache, das erkennt Ben Shalom schon bald, ist nicht seine Form der Reaktion. Mehr noch: in der heutigen Zeit kann diese geforderte Rache nicht mehr gegeben werden.

Als Musiker suchte der Klarinettist eine Lösung des Problems mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Musik. So beschritt er den Weg, die Stimmen derer, die zum Schweigen gebracht worden waren, wieder erklingen zu lassen. Er sieht seine Aufgabe darin, die Musik, die die jüdischen Menschen in dieser existenziellen Situation des nahenden Todes bewegt hat, zusammen mit ihren Lebensgeschichten bekannt zu machen.

Ein Grundgedanke jüdischen Denkens ist es, dass Menschen erst dann vergessen sind, wenn ihre Namen nicht mehr genannt werden. Für Ben Shalom ist diese Wiedererweckung der Namen der zum Schweigen Gebrachten eine Art Transformation der Rache. Denn nun sind diese mit ihren Namen und ihren Geschichten wieder im Leben zurück.

Bei den Lebensmelodien handelt es sich um Melodien aus den Jahren 1933 – 1945, die Ben Shalom wiedergefunden und gesammelt hat. Manche davon hat er in Archiven entdeckt. Viele der Melodien sind aber direkt durch Menschen und von Mensch zu Mensch überliefert worden, manch eine dieser Melodien hat viele Jahre im Stillen gelebt bis sie wieder zaghaft ans Licht kommen durfte. Manche Melodie wurde ihm vorgesungen oder manchmal gab es auch ein kleines Notenblatt, wo sie notiert waren.

Eine kleine Geschichte erzählt Ben Shalom im Interview: Zwei Freunde im KZ. Heimlich treffen sie sich am Abend hinter einer Baracke. Auf einem benutzten und verschmutzten Briefumschlag notiert der (s)eine Melodie, der andere hält die Kerze. Wenn sie erwischt worden wären, hätte es sofort böse Folgen für sie gehabt. Sie verstecken den Briefumschlag mit der Melodie unter einem Bodenbrett und versprechen einander, dass derjenige, der das KZ überlebt, wiederkommt, den Briefumschlag wieder hervorholt und die Melodie öffentlich macht. Kurz danach stirbt der Komponist. Erst nach dem Krieg kann der andere Kamerad sein Versprechen erfüllen. Nun hat sie ihren Platz in der Welt der Klänge und des Gehörtwerdens wieder.

Die Lebensmelodien, die in Hannover zu hören waren, haben alle ähnliche Geschichten. Oft sind sie über die zum Tod führende menschliche Grausamkeit hinaus zusätzlich mit vorhergehenden Demütigungen versehen. Da wird von der Halle 2 im KZ berichtet, wo die Mädchen ihre Schuhe ausziehen sollen und auf einen bereits vorhandenen Haufen von tausenden von anderen Schuhen werfen sollen. Die Schuhe, die sie zuhause angezogen haben, die sie vielleicht zu einem besonderen Anlaß geschenkt bekommen haben, die werden ihnen genommen und damit letztlich ein Stück Heimat, die sie am Körper getragen haben. Barfuß sitzen einige jüdisch-orthodoxe Mädchen in einer Ecke und beginnen in ihrem Glaubenseifer zu beten und eine bekannte Melodie anzustimmen. Bald stimmen alle anderen anwesenden Mädchen mit ein. Eine Lebensmelodie ist geboren.

Oder die Truppe jüdischer Inhaftierter, die gemeinsam mit ihrem Rabbi ihr Massengrab ausheben müssen. Der Rabbi kann noch die Sabbatbrote brechen und Gebete sprechen. Dann fangen sie an in ihrem Grab zu singen und zu tanzen. Da gibt der Nazi-Kommandant den Schießbefehl und sie sterben mitten in ihrem Tanz mit gereinigten Seelen. Das Lied und der Tanz – eine andere Lebensmelodie.

All diese Lebensmelodien hat Ben Shalom ausgegraben und bringt sie wieder zu Gehör. Als Solo-Melodie oder auch als zumeist neue Bearbeitung für das Nimrod-Ensemble. Der klagende Laut ist typisch für die Klarinette. Oft klingt sie verhalten und innig, nachdenklich, suchend und zaghaft singend, dann wieder forsch und fordernd bis sie in geradezu heitere volkmusikhafte tanzähnliche und heitere Strukturen aufbricht. Das Streicherensemble mit Klavier weiß sie durch alle Höhen und Tiefen wohl zu tragen. Dieser klagende und gleichzeitig hoffnungsfrohe Tonfall, ist der Tonfall eines geknechteten aber des von Gott auserwählten Volkes. Er macht diese Melodien so persönlich, läßt jedermann (vielleicht) ein wenig irritiert aufhorchen und läßt sie dann ohne Umwege vom Ohr direkt ins Herz gehen. Diese Lebensmelodien sind nicht einfach nur Musik –sie sind die verklanglichte Geschichte eines ganzen Volkes.

Bei aller Erinnerung, allem Gedenken, allen guten Gedanken und wieder zum Leben erweckten Melodien – draußen steht die Polizei. Was ist ihre Aufgabe? Schauen und Schützen? Oder ist da auch die dauernde Angst, dass es jetzt – in diesem Moment und mitten unter uns – wieder passieren kann? Der Regionspräsident der Region Hannover, Steffen Krach, ruft zur Wachsamkeit auf erinnerte in seinem Grußwort an eine Situation in der Hannoverschen Synagoge am jüdischen Feiertag Jom Kippur. Während des Gottesdienstes war ein Fenster der Synagoge beschädigt worden. Ein Steinwurf, ein Anschlag wurde sofort vermutet. Die Angst griff um sich – zu Recht. Letztlich war es aber tatsächlich und glücklicherweise nur eine Taube, die diesen Schaden verursacht hatte. Dennoch: bei aller Wachsamkeit – ein mulmiges Gefühl bleibt. Oder anders gesagt: es scheint zunehmend „normal“ zu sein, das jüdische Veranstaltungen unter Polizeischutz stehen. Das ist sicher gut und wichtig – aber: was ist das für eine Normalität?

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