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 Foto: © Kirsten Nijhof
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Westberliner Bilderbogen: Gerd Kührs „Paradiese“ an der Oper Leipzig uraufgeführt

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Roland H. Dippel besuchte die Uraufführung von Gerd Kührs Oper „Paradiese“ an der Oper Leipzig, findet sie rein musikalisch als „rundum großen Wurf“. Probleme sieht er hingegen bei der Inszenierung. „Was hinter den Texten und Tönen dieser mehrschichtigen Berlin-Oper stecken könnte und vom Autoren wie vom Komponisten mitgedacht wurde“, habe sich der Regisseurin Barbora Horáková Joly nicht so ganz erschlossen.

Bei der allerersten und von Hans Werner Henze gegründeten Biennale für Neues Musiktheater 1988 stand Ulf Schirmer am Pult zur Uraufführung von Gerd Kührs Oper „Stallerhof“ nach dem Stück von Franz Xaver Kroetz, einem der nachhaltigsten Erfolge des jüngeren Musiktheaters, und dann wieder bei Kührs „Tod und Teufel“ nach Peter Turrini an der Oper Graz 1999. So schließt sich mit diesem von der Ernst von Siemens Musikstiftung geförderten Kompositionsauftrag und ersten Leipziger Opernuraufführung im großen Haus nach 21 Jahren ein Kreis, der vor 33 Jahren in München begann: Gerd Kührs vierte Oper „Paradiese“ mit dem Text von Hans-Ulrich Treichel erlebt mit insgesamt nur drei Vorstellungen en suite ihre Premiere – aufgrund der Hygienebestimmung vor halbvollen Saal. Das Publikum, darunter viele Angereiste aus Österreich und der in ganz Deutschland verstreuten Henze-Szene, reagierte mit warmem, bewegtem Applaus und vereinzelten Jubelrufen.

Kührs Oper ist ein Werk intensiver Zwischentöne, enthält Fragen ohne Verrätselungen und betreibt Vergangenheitssuche ohne nostalgisches Flair. Seine Musik verrät starke Selbstkritik und Scheu vor groben Effekten. Das gilt auf gleicher Höhe für das Besetzungsaufgebot mit ausschließlich physischer Tonerzeugung und einem szenisch wie musikalisch umfangreichen Chorpart, der nach Präzisionsarbeit an den vertrackten Sprechpassagen und der machtvollen Mänadenhymne dank Thomas Eitler-du Lint so glänzte wie die Solisten in ihren anspruchsvollen Solopartien.

Von der musikalischen Seite also rundum ein großer Wurf – auch durch Mathias Hausmann in den vier Akt-Stationen von 1968 bis 1990, die vier je einen Akt dominierenden Darstellerinnen seiner Geliebten und die vielen Kleinpartien vom Psychoanalytiker bis zum Theaterdramaturg: Genannt seien Gabriel Pereira, Julian Dominique Clement, Philipp Nicklaus. Die tschechische Regisseurin Barbora Horáková Joly – eigentlich hätte sie an der Oper Leipzig auch „Die Zauberflöte“ inszenieren sollen – griff auf ihre mehrwöchigen Ortserkundungen in Berlin zurück. Aber das, was hinter den Texten und Tönen dieser mehrschichtigen Berlin-Oper stecken könnte und vom Autoren wie vom Komponisten mitgedacht wurde, erschloss sich ihr nicht ganz.

Die ersten Suchen nach den irdischen Paradiesen unternahm Kühr seit 2005 mit seiner 2016 verstorbenen Ehefrau Petra Ernst – der Literaturwissenschaftlerin ist die Oper gewidmet. Als Schauplatz kam nur Berlin aus der Perspektive einer zugereisten Person in Frage, die ihren Heimatort floh und in Berlin alle Möglichkeiten von Selbst- und Grenzerfahrungen sucht. Diesen realistischen Strukturball fing Hans-Ulrich Treichel auf und reicherte ihn mit eigenen biographischen Erfahrungen an. Die in jedem Akt anderen Stadt- und Traumszenerien handeln immer von Berlin als Hoffnungsinsel für Aussteiger und Aufsteiger.

Albert kommt stürzt aus dem miefigen Ostwestfalen in die Studentenunruhen und beteiligt sich intensiv an der sexuellen Revolution. Mathias Hausmann gibt Albert über weite Teile des Abends als „topless guy talking about his sex life“. Er hat durch eine Überdosis Lachgas erotische Visionen von der Pfaueninsel, aber nicht im Zoologischen Garten. Aida-Leonor Guardia illustriert das mit übergroßen Mohnblüten in LSD-Farben und einstürzenden Neubauten.

Albert erlebt im Theater eine Education sexuelle durch eine gereifte Spitzenschauspielerin und findet seine Erfüllung in Prenzlauer Berg bei der hemmungslos sinnlichen und dabei lebensklugen Anna: Die von Treichel verordneten Lektionen an Erfahrungszuwachs hat er gut gelernt. Am Schluss spricht das gemessen an Alberts vorherigen Problembeziehungen ideale Paar über Annas Großmutter, die nach den Diesseits-Eruptionen durch Weimar, Hitler, DDR und Wiedervereinigung getrost auf ein Jenseits nach dem Tod verzichten könnte. Am sich ändernden Szene-Jargon merkt man, wie die Zeit vergeht, nicht aber am Sprechtempo.

Nostalgie macht sich weder im Text noch in der Musik breit. Bei der Entstehung von „Paradiese“ guckten Botho Strauß und Henze, der in Italien und in Berlin die kleinbürgerlichen Fesseln seiner Herkunft abstreifte, Kühr und Treichel über die Schulter. Jeder der vier Akte zeigt, dass Kührs „Paradiese“ mehr sind als die Möglichkeit von mehr oder weniger glücklichem Sex mit einer Garnitur von Revolte, Opposition und linkem Elitedenken. Die kompositorischen Mittel sind vielfältig: Die studentischen Sprechchöre rappen eine imposante Silben-Choreographie, einige Töne der Zahnmedizin-Studentin Friederike (Julia Sophie Wagner) imitieren die Geräusche ihres Bohrers, die dramatische Wortvirtuosin Marie (Christiane Döcker) bleibt im echten Leben tonal recht einsilbig und die Erregungskurve der ostdeutschen Geschichtslehrerin Anna (Magdalena Hinterdobler) spiegelt sich in ihrer Vokallinie.

Die beiden Mittelakte – einer träumerisch, einer phantastisch – spielen auf Berliner Zeitgeschichten des späten 20. Jahrhunderts an. Einfacher läuft es mit den Intimbeziehungen in den Rahmenakten. Da merkt Albert zuerst, dass seine Gefühle die politisch legitimierte Promiskuität der von ihm begehrten Lise (Alina Adamski) nicht ohne weiteres verkraftet und ihm im weitgehend unproblematischen Verhältnis mit Anna am wohlsten ist. Ein Doktorspielchen der meliziösen Art wird, wenn Albert an seine Überwältigung durch eine dominante Gespielin im weißen Kittel denkt, diese ihn allerdings nur als Übungsobjekt vor ihrer Approbation betrachtet. Dass im dritten Akt die Mänaden aus den „Bakchen“ des Euripides herausbrechen und zu „Furcht und Hoffnung der BRD“ werden, ist ein Reflex auf Peter Steins epochale „Orestie“-Inszenierung an der Schaubühne und vor allem auf Henzes Oper „Die Bassariden“: In dieser mündet die Befreiung aus dem Korsett der Konventionen nach der Lust in Ekstasen unbändiger Zerstörungswut.

Kühr verfügt für Orchester und Bühne über verschiedene Mittel zur sensitiven Steigerung und ausdrucksdichten Deutlichkeit. Streicher, Hölzer oder Blech bleiben oft getrennt und kommen immer wieder in chromatischen Engführungen zusammen. Kühr stellt keine Fragen an die Episoden des Textbuchs, und keine an die Zuschauer. Albert ist mehr Kettenglied zwischen den Einzelakten als dynamischer Charakter. Kühr zeigt sich in seinem Sujet d'accord mit Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, wenn er Szenen mit phantastischen und übernatürlichen Phänomenen für Musik besonders geeignet hält.

Treichel stellte in seinem Libretto Fragen an die Insel Westberlin, die ihm dort früher schnuppe waren. Kührs Musik umgeht direkte koloristische Zeitbezüge und Assoziationen an „Linie 1“, Ton Steine Scherben oder DAFs „Kebap Träume“. „Paradiese“ tickt im Puls jener Generationen, die ein Abonnement bei Götz Friedrich an der Deutschen Oper Berlin hatten oder Dieter Dorn von den Münchner Kammerspielen ans Residenztheater begleiteten. Was hätte letzterer aus dieser Oper gemacht? 

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