Hauptbild
Flyer der Veranstaltung. Rückseite
Flyer der Veranstaltung. Rückseite
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Zeitsprung-Experten: Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik Ex Tempore

Publikationsdatum
Body

Zum sechsten Mal findet das von Experten aus ganz Europa besuchte und gestaltete Improvisationsfestival für Alte Musik Ex Tempore in Leipzig statt. Im Zweijahresabstand kombiniert Leiter Martin Erhardt in der vom Deutschen Institut für Improvisation, Leipzig, veranstalteten Reihe mehrere Konzerte, Vorträge, Workshops und interaktive Formate. Dabei fallen nicht nur die Mauern zwischen den musikalischen Gattungen, sondern auch zwischen den Künsten. Ein Bericht von Roland H. Dippel.

Auf den ersten Blick wirkt die Location des Eröffnungskonzerts „Leipzig Anno 1684“ am 19. September und des von Mareike Greb mit Bernd Niedecken und den Teilnehmer*innen eines Workshops gestalteten Tanzballs „London Anno 1665“ am 21. September etwas wahllos: Der historische Speisesaal im Leipziger Hauptbahnhof ist ein Gemisch aus neubarockem Deckenstuck, altdeutsch gemeinter Holzvertäfelung und Tafelbildern zwischen Impressionismus und Neuer Sachlichkeit. Eine Akkumulation ästhetischer Gegensätze, die zwangsläufig eine dekorative Einheit bilden muss – und eine starke Herausforderung für Musiker*innen. Denn dieser Ort duldet keinerlei Zimperlichkeit. Nicht einmal bei immer risikobehafteten Improvisationen ist es möglich, Töne aus dem ungefähren Nichts in selbstgewisse Fülle zu steigern. Sogar Leises strömt üppig in den Raum.

Ex Tempore ist fast so etwas wie die zeitgenössische Euro-Scene Leipzig für die Welt von vorgestern. Das zeigt sich im von Gewandhauschor-Leiter Gregor Meyer sensibel und engagiert dirigierten Eröffnungskonzert. Auch der Parade-Gambist Paolo Pandolfo ist kein Debütant bei Ex Tempore. Doch für ihn ist der gemeinsame Auftritt mit dem Leipziger Ensemble 1684, das seinen Namen auf das Sterbejahr des von Johann Rosenmüller bezieht, eine Premiere. Die von dem Professor der Schola Cantorum Basel gespielte Viola da gamba wurde um 1600 das wichtigste Instrument in der Entwicklung von der Polyphonie zu einer affektiven Musikgestaltung und damit eine Alternative zur hochentwickelten Kultur des Chor-, Madrigal- und a-cappella-Gesangs.

Selbst wenn einige Vokalsätze a-cappella erklingen, ist das tiefere Verständnis der Stimmführung und Harmonien für die meisten Hörer nicht ganz einfach. Vielen fehlt die für das Publikum der Entstehungszeit selbstverständliche Kenntnis der Chorsätze. Der Genuss, das Vergnügen und die Bewunderung beim Hören der teils abwechselnd und dann wieder synthetisierend spielenden Sänger und Musiker verlagern sich von der geistigen Durchdringung auf die sinnliche Wahrnehmung.

In diesem Konzert geht es auch um die Einflüsse der weltlichen Musik des 16. Jahrhunderts aus Italien und Frankreich auf die Sakralmusik des 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Trotz der unterschiedlichen Musikzierhaltungen des in den europäischen Spielarten souveränen Paolo Pandolfo und der klaren Transparenz von Ensemble 1684 gibt es im Gesamtklang kein spürbares Innehalten, keine zögernde Verständigung oder rhythmische bzw. gestisch ergänzende Zeichen untereinander. Von einem Platz in den hinteren Reihen betrachtet, wirkt das Zusammenspiel Pandolfos mit der Lautistin Petra Burmann so harmonisch, verschmelzend und auf einer Schwingungsebene, dass man das Nebeneinander der a-cappella-Kompositionen von Palestrina, Heinrich Schütz und Rosenmüller zu der spontan entstehenden Begleitung und den Instrumental-Verzierungen vergisst. Später wird in Stücken von Cipriano de Rore, Adrian Willaert, Orario Bassani und Thomas Crequillon immer deutlicher: Das Verschmelzen von Sphären und Stilen zählt weitaus mehr als die Schärfung von Kontrasten.

Puristen sind möglicherweise anderer Meinung: Aber das Improvisationsfestival ist auch deshalb wichtig, weil es die Betrachtungsweise der Hörer auf die fließende Dynamik sowie musikalische und ästhetische Transformationen richtet. Die Spezifizierung und Spezialisierung für Musik vor der Französischen Revolution ist durch Interpreten und Medien derart perfektioniert, dass heute bei Aufführungen und Einspielungen feinste Unterscheidungen zeitlicher und geographischer Ursprünge mit hochqualitativer Präzision und Spontaneität hörbar werden. Auch deshalb ergibt es Sinn, dass Ex Tempore nicht in authentische Leipziger Orte für Alte Musik, also Thomaskirche oder Nikolaikirche, drängt, sondern an Schauplätzen agiert, denen man die Verhaftung in kontrastierenden Stilperioden anmerkt. Zu diesen gehört die Alte Handelsbörse, deren 1955 erneuerte Innenausstattung zum dekorativen Relikt einer eigenen historischen Epoche wurde. Insofern ist das sechste Improvisationsfestival nicht nur wichtig, sondern auch Goethe-affin. Denn hier behandelt man Alte Musik als nicht-materielles Artefakt, sondern im Bewusstsein ihres Wandels am „sausenden Webstuhl der Zeit“.


  • EX TEMPORE – 6. Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik: Sa 21.09./19:30 London Anno 1665. Improvisierter Tanzball – So 22.09./17:00 Venezia Anno 1610 (Programm nach Ansage) – https://www.improfestival-leipzig.de

 

 

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!