Spätestens seit dem Festakt zum GEMA-Jubiläum im vergangenen Jahr, als Johannes Rau der ehrwürdigen Institution anstelle blumiger Würdigungen den kulturellen Auftrag mit aller Deutlichkeit ins Stammbuch schrieb, wusste man: diesem Bundespräsidenten liegt die musikalische Bildung am Herzen. Als er dann auch noch im September zum Kindermusiktag in seinen Amtssitz lud, entstand die Idee, das Staatsoberhaupt für einen Besuch der Frankfurter Musikmesse zu gewinnen. Und er kam. Nicht, um als fotogene Dekoration kommerziellen Messeständen Publicity zu garantieren, sondern um der Sache willen: dem Bildungs-, nicht dem Wirtschaftsfaktor Musik galt sein Besuch.
Die Messe hatte also Sorge dafür zu tragen, ihr Engagement auf diesem Feld glaubhaft zu machen. Im Rahmen des Aktionstages zur musikalischen Bildung unter dem Motto „Musik bewegt“ wurde der Deutsche Musikrat mit der Aufgabe betraut, eine entsprechende, von der eigentlichen Messe klar abgegrenzte 90-minütige Veranstaltung zu organisieren. Ziel war es, die Inhalte und Potenziale musikalischer Bildungsarbeit in kurzen Präsentationen prägnant darzustellen. Infotainment nennt man so etwas heute, und in musikalischer Hinsicht war das durchaus gelungen, sei es die Bühnenpräsenz der Hamburger „Coolen Streicher“, das Selbstbewusstsein der Dortmunder Musikschul-Rapper vom Projekt „Kontra“ oder die Innenspannung des Jeunesses Moderne Projektorchesters. Die eher nichtssagenden kleinen Interviews vor den Beiträgen indes gaben den verantwortlichen Chorverbänden des ersten Programmblocks Recht (Arbeitskreis Musik in der Jugend, Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände), die gegenüber den Organisatoren darauf bestanden hatten, die altersspezifischen Besonderheiten der Chorarbeit – in einer sinnfällig aufeinander aufbauenden Abfolge von Gesangsbeiträgen vor Ohren geführt – mit einer eigenen Moderation zu kommentieren.
Ohne dieses, auch musikalisch auf höchstem Niveau stehende Element wäre die Veranstaltung wohl endgültig der Gefahr erlegen, als konzertant üppig umrahmte Preisverleihung missverstanden zu werden. Die vom Musikrat und der Stiftung 100 Jahre Yamaha erstmals „für herausragende musikpädagogische Innovationen“ verliehene Auszeichnung „Inventio 2004“ passte wenigstens noch inhaltlich zur ursprünglichen Zielrichtung, auch wenn die späte und nur Insidern bekannte Ausschreibung Fragen nach der Vergabepraxis aufgeworfen hatte. (Zu den Preisträgern zählten unter anderem das Jugendmagazin des Bayerischen Rundfunks „19.4“, das Klingende Museum Berlin oder der Gesangs- und Instrumentalwettbewerb der Jeunesses Musicales „Verfemte Musik“.) Der – fraglos wichtige – Musikinstrumentenpreis indes machte diesen Programmpunkt endgültig zum Fremdkörper.
Was Folgen für die Außenwirkung hatte, denn die wurde in den Printmedien von eben diesen Auszeichnungen dominiert, was die Preisträger, die Yamaha Stiftung und den Verband der Musikinstrumentenhersteller, nicht aber diejenigen gefreut haben dürfte, die sich von dem Aktionstag ein medienwirksames Signal zu musikpädagogischen Inhalten erhofft hatten. Die durften sich dafür an des Bundespräsidenten Grußwort erwärmen, Balsam auf die Seele aller Musiklobbyisten. In freier Rede lieferte er jede Menge Zitat-Nachschub für deren künftige Ansprachen und Diskussionsbeiträge: „Wir müssen darauf achten, dass der ganze Mensch gebildet wird. (...) Kunst und Kultur sind nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig. Wenn diese Hefe fehlt, fällt der Kuchen zusammen, auf Dauer jedenfalls.“ Den Hit der vergangenen Jahre griff Johannes Rau gleich selbst noch einmal auf: „Unser Bundesinnenminister (…) hat gesagt: ,Wer Musikschulen schließt, der gefährdet die innere Sicherheit‘. (…) Wenn der Satz stimmt, dann muss man auch Auslandskulturarbeit weitermachen und darf die nicht kürzen. Wenn der Satz stimmt, dann muss endlich Kulturarbeit wie Sozialarbeit zu den Pflichtaufgaben der Gemeinden gerechnet werden und nicht zu den freiwilligen.“ Auch für die Motivationslage der Musikmesse fand er klare Worte: „Was würde denn aus der Musikmesse in Frankfurt, wenn es keine Menschen gäbe, die musizieren, wenn es nur noch Konsumenten gäbe? Was würde denn eine Stadt eigentlich mehr sein, als ein in Beton umgesetzter Flächennutzungsplan? Was wäre, wenn es kein Theater gäbe, keine Oper, keine Bühne, kein Konzert, keine Bibliothek?“
Sprach’s und eilte in die Halle 3.1 zum Gemeinschaftsstand der Musikverbände, wo sich an einer riesigen Tafel die Spitzenvertreter um ihn scharten, ihre Anliegen in ein paar Sätzen loszuwerden. Wie überhaupt dieser Stand nicht nur an diesem Tag, als er im Zuge des Bildungsschwerpunkts (akustisch problematischer) Veranstaltungsort einiger Workshops und Präsentationen war, seinen Zweck als zentrale Anlaufstelle für Informationen zum Musikleben in Deutschland attraktiver als in vergangenen Jahren erfüllte.
Auch die erste Podiumsdiskussion auf der Themenbühne war dem Komplex der musikalischen Bildung gewidmet und zwar unter dem provokativen Titel „Hauptfach Musik?“. Moderator Andreas Bomba lenkte das Augenmerk angesichts der prominenten hessischen Runde ein wenig von schulinternen Gegebenheiten weg und sorgte so für ein anregendes länderspezifisches Panorama der Vernetzungschancen. Das von Dorothee Graefe-Hessler (Arbeitskreis für Schulmusik) vorgestellte „Bündnis für Musikunterricht in Hessen“ könnte dafür ein Ausgangspunkt sein, das Ensemble Modern, hier vertreten durch Geschäftsführer Elmar Weingarten, ist in diversen Response-Projekten bereits mit im Boot. Volker Bernius vom Hessischen Rundfunk sicherte – nicht überraschend – wohlwollende Begleitung der diversen Aktionen und Projekte zu, und auch dem Vertreter der Politik, dem Landtagsabgeordneten Norbert Herr, wurde, wie so oft bei solchen Gelegenheiten, die offene Tür eingerannt. Gut, wenn diesen wohlfeilen Bekenntnissen auch Taten folgen. Frischen Wind und jede Menge neue Anregungen darf man sich, nicht nur was die Situation in Hessen angeht, vom designierten Präsidenten der Frankfurter Musikhochschule, Thomas Rietschel (vormals Jeunesses Musicales und Deutscher Musikrat), erhoffen, der mit klaren Worten zum Ausbildungsprofil zukünftiger Absolventen die Richtung vorgab.
Vielleicht kann auch die Musikmesse ihrerseits wieder von solchen Bündnissen und Initiativen profitieren; ein Blick in die deprimierenden Räumlichkeiten des heuer erneut angebotenen „Music4Kids“-Programms ließ jedenfalls den Schluss zu, dass hier ein wenig pädagogischer Sachverstand nach wie vor nicht fehl am Platze wäre. Denn wiederum waren unerschrockene Eltern, die sich mit ihrem Nachwuchs in den Messerummel gewagt hatten, außerhalb der drei täglichen Vorführungen komplett allein gelassen. Die einfallsreichen Musikskulpturen Michael Bradtkes ausgenommen wurden die Kinder einfach der Ödnis elektronischer Klangerzeuger ausgeliefert oder durften sich an den durch herumliegende Instrumente verbesserten Haftbedingungen in heimeligen Übezellen ergötzen.
Da scheint also eine nicht unerhebliche Lücke zu klaffen zwischen dem Aufwand, der für eine für sich genommen ja durchaus erfreuliche Hochglanzveranstaltung vor geladenen Gästen betrieben wird, und dem Angebot für die Kinder selbst, jener angeblich so ernst zu nehmenden Zielgruppe von morgen, die doch zuallererst einmal eine heutige ist. Wenn – und dies wäre auf die Lobbyarbeit für kulturelle Bildung insgesamt zu übertragen – solche Events endlich einmal dazu beitragen, diese Lücke in der Substanz nicht nur zu übertünchen, sondern auf Dauer zu schließen, ist an ihrer Existenzberechtigung nicht zu zweifeln und wir würden uns freuen, das neue Staatsoberhaupt im kommenden Jahr mit einer ähnlich persönlichen und echtes Engagement ausstrahlenden Rede auf der Musikmesse zu hören. Wo nicht, gilt Johannes Raus Mahnung: „So geht es nicht weiter“.