Die Ruhrgebietsinitiative „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) ist ein vieldiskutiertes Thema in der Musikpädagogik, da es die Institution Musikschule organisatorisch, pädagogisch und politisch nachhaltig verändert. Die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ möchte gemeinsam mit dem Sprecher der an JeKi teilnehmenden Musikschulen im Ruhrgebiet und Leiter der Musikschule Dortmund, Volker Gerland, die Beiträge der ver.di Fachgruppe Musik (nmz Ausgaben 10/09 und 12/09) aufgreifen. Die Aussagen und die Reaktionen darauf zeigen, dass die Musikschullandschaft sich mitten in einem Veränderungs- und Findungsprozess befindet, der längst nicht abgeschlossen ist.
„Jedem Kind ein Instrument“ möchte eine flächendeckende Basismusikalisierung bei Grundschulkindern gleich welcher Schicht oder Herkunft erreichen. Zweieinhalb Jahre sind seit Einführung des Ruhrgebietsprogramms vergangen, viele tausend Kinder aus allen Bevölkerungsschichten nehmen inzwischen daran teil. Der Erfolg dieser Bildungsinitiative lässt sich unserer Meinung nach nicht, wie von der Fachgruppe Musik (Anja Bossen, nmz 10/09) festgestellt, am Erreichen oder Nicht-Erreichen starrer Zielvorgaben messen, die sich unreflektiert an der bisherigen Musikschuldidaktik orientieren. JeKi lässt sich vielmehr daran messen, dass es das Erlernen eines Musikinstruments durch ein Netzwerk von über 56 Musikschulen und 900 Grundschulen im Schulalltag der Kinder realisiert.
„Jedem Kind ein Instrument“ stellt dabei das eigene musikalische Handeln und Lernen im Singen und im Instrumentalspiel in den Vordergrund: Musik soll unmittelbar erleb- und erfahrbar sein – sowohl individuell mit der Stimme und dem eigenen Instrument als auch gemeinschaftlich beim Musizieren in der Gruppe. Gerade das gemeinsame Musikerlebnis an den Grundschulen ist geprägt von Vielfalt: vom Zuhören, vom Zusammenspielen und von elementarer Gestaltung. Klassische Musikschulangebote lassen sich nicht auf die Arbeit an den Grundschulen übertragen: Die JeKi-Instrumentalstunden finden in der Lernumgebung „Schule“ statt, was Erwartungen und Verhalten der Kinder prägt.
Die zu erwerbenden Kompetenzen müssen demnach breiter angelegt sein als im für die „happy few“ maßgeschneiderten Unterricht am Nachmittag an der Musikschule. Elementarmusikalische Kompetenzen gewinnen an Bedeutung und stehen in enger Verschränkung mit allgemeiner musikalischer Bildung und in enger Wechselwirkung zum sonstigen Geschehen in der Grundschule.
JeKi vernetzt Musik- und Grundschularbeit
Das Programm ist eine Klammer, die Musik- und Grundschulen zu einer gemeinsamen Erfahrungs- und Lernwelt für Musik zusammenfügt – zum Nutzen der Grundschulkinder. Eine tiefgreifende Zusammenarbeit von Grund- und Musikschule auf organisatorischer wie auf inhaltlicher und methodischer Ebene sind dazu notwendig. Damit erweitern sich die bisherigen Bildungskonzepte der Musikschule.
Ver.di konstatiert: „In der Musikschule haben Lehrer und Lehrerinnen die Möglichkeit, auf dauerhaft nicht übende Kinder individuell zu reagieren, so dass andere Kinder in ihrer musikalischen Entwicklung nicht behindert werden.“ Binnendifferenzierung ist der Alltag der Grundschulpädagogik. Bildungssysteme, die prinzipiell nicht selektieren und sortieren, sondern innerhalb der Gemeinschaft individuell fördern, sind aus vielerlei Gründen besonders effektiv. Das bei JeKi angewandte Verfahren der Binnendifferenzierung stellt Methoden und Wege bereit, Kinder unterschiedlichen Leistungspotentials in der Gruppe individuell zu fördern.
Da die Binnendifferenzierung ein neues Feld für Musikschulen ist, hat die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ genau darauf einen Schwerpunkt ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote gelegt. Die Befürchtung, dass die Korrektur der Haltung und Spieltechnik zu kurz kommen könnte, da zu wenig Zeit für das einzelne Kind bleibt, darf nicht dazu führen, ganze Bevölkerungskreise vom Erlernen eines Instruments auszuschließen. Vielmehr gilt es, die bestehenden Vermittlungskonzepte und Vermittlungsziele für den breitenorientierten Instrumentalunterricht in Grundschulen zu überprüfen, von anderen Ansätzen, beispielsweise aus der Grundschulpädagogik, zu lernen und eigene Ansätze zu modifizieren. Der Siegeszug des Klassenmusizierens zum Beispiel zeigt, dass es neben den tradierten Verfahren der Musikschulen auch andere Erfolg versprechende Lernverfahren gibt.
Die pädagogischen Zielsetzungen für „Jedem Kind ein Instrument“ sind den Ruhrgebietsmusikschulen auf zahlreichen intensiven Austauschtreffen vorgestellt, in Workshops erörtert und vermittelt worden. Darüber hinaus sind sie eng verknüpft mit den kostenlosen Fortbildungsmaßnahmen, die die Stiftung den teilnehmenden Ruhrgebietsmusikschulen anbietet (inzwischen mehr als 1.000 Fortbildungsstunden). Ihrer Profession entsprechend haben sich viele Lehrkräfte ihr eigenes Unterrichtsmaterial zusammengestellt. Leitfäden für den Unterricht, die die Stiftung den beteiligten Lehrkräften seit dem Jahr 2008 zur Verfügung stellt, bildeten dazu eine wichtige Basis. Im Oktober 2009 erschienen erste Unterrichtsmaterialien als noch nicht vollständige Vorausgaben im Handel (http://www.schott-musik.de/worldof-themes/musiceducation/schule/grundsc… index.html). Diese Vorausgaben werden von den im Programm tätigen Musikschullehrkräften im Praxiseinsatz geprüft, bevor innerhalb der nächsten zwei Jahre Endfassungen von 30 Schüler- und 20 Lehrerbänden erscheinen werden.
JeKi verlangt der gesamten musik-(schul)pädagogischen Sphäre in hohem Tempo Neuerungen und Veränderungen ab. Unbestritten ist, dass hier, wegen der Notwendigkeit, konzeptionelle Entwicklungen „während der Fahrt“ durchzuführen, von den Lehrkräften viel gefordert wird. Es verdient Respekt und große Anerkennung, dass 42 Kommunen und ihre Musikschulen im Ruhrgebiet ihr Innovationspotential ausschöpfen und „ins kalte Wasser gesprungen“ sind. Es ist eben auch der guten musikpädagogischen Qualifikation der Lehrerkollegien, ihrer Einsatzbereitschaft und ihrem Mut zu verdanken, dass sich dieses Programm tatsächlich bereits an 522 Grundschulen etablieren konnte und von den Grundschulen einhellig begrüßt wird.
JeKi erhöht Zugangschancen
zu kultureller Bildung
Die vierjährige Pilotphase von JeKi im Ruhrgebiet bietet vor allem die Chance, fachlich und organisatorisch zu prüfen, wie ein Ansatz zur aktiven Grundmusikalisierung von Kindern in aller Breite möglich wird. Der Fokus liegt dabei zunächst einmal auf der Verbesserung der Zugangschancengleichheit unter Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen beziehungsweise auch unter Vergrößerung dieser.
Inbegriffen sind darin organisatorische und arbeitsrechtliche Fragestellungen, beispielsweise rund um Themen wie Tandem (Teamteaching), Anfahrtskosten, Fortbildungsaufwand oder Regiezeiten. Es zeigt sich erst im praktischen Einsatz, dass an manchen fachlichen und organisatorischen Stellschrauben noch gedreht werden muss, um das Programm zu optimieren. Es wäre jedoch eine Überbeanspruchung des Programms, zu erwarten, dass es neben der Vervielfachung der Ressourcen zugleich alle anderen Problematiken wie Festanstellung von Lehrkräften, Tarifdebatten, Arbeitszeitenregelungen et cetera grundsätzlich lösen könnte.
Die Initiatoren des Programms, die Kulturstiftung des Bundes, das Land NRW und die Zukunftsstiftung Bildung haben gemeinsam mit der Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ und den teilnehmenden Musikschulen in der Tat den Anspruch, mit der 2007 gestarteten Ruhrgebietsinitiative einen wertvollen Beitrag zur musikalischen Bildung zu leisten. Und hier bietet JeKi bereits Antworten auf die Forderungen der Fachgruppe Musik (Anja Bossen, nmz Ausgabe 10/09):
JeKi ist im ersten Schuljahr komplett kostenfrei und obligatorisch für alle Kinder der teilnehmenden Grundschulen, JeKi ist finanziell abgesichert und nachhaltig angelegt. Die Kulturstiftung des Bundes, das Land NRW und die Zukunftsstiftung Bildung fördern bis zum 31. Juli 2011, anschließend übernimmt das Land NRW die Fortführung des Ruhrgebietsprogramms.
JeKi soll zusätzlich zum bisherigen Musikschulangebot stattfinden. Das fordern Musikschulen und Stiftung gleichermaßen. Die absehbar wachsenden Schülerzahlen sind nur mit einem Ausbau der Ressourcen der Musikschulen zu schaffen.
Das JeKi-Programm braucht langfristig festangestellte Lehrkräfte. Mehr als 300 neue Beschäftigungen sind bereits entstanden. In den Programmstandards der Stiftung (www.jedemkind.de) wird die übergangsweise Beschäftigung von Honorarlehrkräften, um den derzeit hohen Bedarf zu decken, nicht ausgeschlossen. Die extrem hohe Refinanzierung der Personalkosten zu 87,5 Prozent vereinfacht es den Kommunen jedoch beträchtlich, Festanstellungen anzubieten.
Die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ stellte allen teilnehmenden Kommunen im vereinbarten Umfang und ohne Abstriche Geld für Gebührenausfälle, Musikinstrumente und Stipendien zur Verfügung. Die Gebührenausfälle (Eltern in Bezug von Sozialleistungen) der Städte übernahm und übernimmt die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ in vollem Umfang. Kein einziges Kind musste abgewiesen werden, weil das Geld für ein Instrument oder ein Stipendium fehlte.
(Weitere Ausführungen und Antworten auf die ver.di-Forderungen finden Sie unter PUBLIKATIONEN auf www.jedemkind.de.)
Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit sind in diesem Programm definitiv keine leeren Schlagwörter: Tatsächlich werden im ersten JeKi-Jahr alle Kinder unabhängig ihrer Herkunft erreicht. Allein im vergangenen Jahr waren 15 Prozent der teilnehmenden Zweitklässler von den Unterrichtsgebühren befreit. Das JeKi-Programm ist im Ruhrgebiet nahe an der visionären Grundforderung der kulturellen Bildung, wirklich alle Kinder mit einer Erfahrung eigener kultureller Praxis auszustatten.
Manfred Grunenberg, Projektleitender Direktor der Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“
Volker Gerland, Sprecher der an JeKi-Ruhr teilnehmenden Musikschulen und Leiter der Musikschule Dortmund