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Tradition trifft neue Architektur: Anfang Oktober fand das Musikfest der Münchener Gesellschaft für Neue Musik im Schwere Reiter statt. Foto: MGNM
Tradition trifft neue Architektur: Anfang Oktober fand das Musikfest der Münchener Gesellschaft für Neue Musik im Schwere Reiter statt. Foto: MGNM
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Die Kunst des Übergangs

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Zugewinn für Münchens Kulturszene: Das neue Gebäude des „Schwere Reiter“
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In der Landeshauptstadt Bayerns gibt es eine florierende und stetig gewachsene Freie Musikszene. Sie setzt sich beständig und vernehmlich ins Licht und trifft auf Musiker, die Ähnliches wollen, die die Dinge vielleicht etwas anders angehen und dadurch in Debatte und Austausch treten. Aber die Szene ist gebeutelt.

Abgemagerte Haushalte Anfang der 2000er-Jahre, das damit verbundene Wegbrechen von Spielstätten, von Raumnot geplagte Ensembles und nicht zuletzt das Brachliegen jeglichen kulturellen Angebots während der aktuellen Pandemie trafen die Freie Szene an vorderster Front. Und dann wieder staunt man über die Vitalität der Stadt, über ihr plötzliches Vorpreschen mit Projekten, die anderswo kaum zu verwirklichen gewesen wären. Die Rede ist hier vom Neubau des „Schwere Reiter“ in der Dachauer Straße, der in Rekordzeit von nur 13 Monaten in der Starre der Corona-Pandemie errichtet wurde.

Das alte (noch vorhandene) Gebäude wies erhebliche Mängel baulicher und brandschutztechnischer Art auf und der Spielbetrieb unterlag der Duldung der Landesbaukommission. Es bestand also Handlungsbedarf, aber die Verantwortlichen im Stadtrat waren sich zunächst unsicher, ob saniert oder gebaut werden soll. Letztendlich entschied man sich für einen temporären Neubau, der von der städtischen MGH  (Münchner Gewerbehof- und Technologiezentrumsgesellschaft mbH) nach Entwürfen des Münchner Architekturbüros Mahlknecht Herrle errichtet wurde.

Das Interimsgebäude befindet sich auf dem Gelände eines urbanen Stadtquartiers, „in dem Wohnen und Arbeiten mit Kunst, Kultur und Wissen verknüpft werden“ sollen, so der Beschluss des Stadtrats der Landeshauptstadt München vom Oktober 2018. Dessen Umsetzung haben nicht zuletzt die Stadträt*innen, Bürger­meister*innen und der Kulturreferent vorangetrieben. „Der Neubau mit seinen markanten Spundwänden besticht nicht nur durch die angesagte Architektur, sondern hat aufgrund der Verwendung von recycelbaren Materialien und der kurzen Bauzeit Modellcharakter für unsere Stadt“, erklärt dazu Katrin Habenschaden, 2. Bürgermeisterin.

Unkonventioneller Bau

Tatsächlich wirkt der Bau mit einer Nutzfläche von 940m2 modern, aber erfreulich unkonventionell und äußerst funktional. Auffallend ist die Deckungsgleichheit des alten und neuen Konzertraumes, die eine vertraute Atmosphäre garantiert. Weiterhin steht noch ein Studio zur Verfügung, das für kleine Formate genutzt werden kann (zum Beispiel Lesungen für bis zu 40 Personen).

Christiane Böhnke-Geisse, die eine der drei Sparten des Hauses, scope – Spielraum für aktuelle Musik, verantwortet, sieht das neue Gebäude in erster Linie als Experimentier- und Arbeitsort für die dort agierenden (Münchener) Künstler. Die in den letzten Jahren etablierten Kooperationen mit Institutionen wie der MGNM – Münchner Gesellschaft für Neue Musik, der Münchener Biennale, dem Bayerischen Rundfunk, dem Münchener Kammerorchester oder auch Tonkünstler München e.V. finden auch weiterhin eine Heimstatt im „Schwere Reiter“. Scope soll aber in erster Linie Spielraum für die Freie Szene sein, die hier ideale Bedingungen vorfindet. Anton Biebl, Kulturreferent der Landeshauptstadt München, sieht in dem Drei-Sparten-Haus einen „zukunftsgerichteten Ort der Freien Szene in München“.

Seit der Eröffnung am 17. September 2021 konnten sich de facto in einer Testphase schon die unterschiedlichsten Formate in all ihrer Breite und Vielfalt präsentieren. Als großer Vorzug hat sich hierbei der Zusammenschluss der Freien Szene, die IG Zeitgenössische Musik München (IG ZMM), erwiesen. Die Musiker finden es großartig, für ihre Konzertreihen eine feste Spielstätte zu haben, bekennt freimütig der Klarinettist Oliver Klenk.

Ihnen kommt zugute, dass die technische Ausstattung auf hohem Niveau auch aufwändigere Produktionen erlaubt. Als Dauerleihgabe des Kulturreferats wird ab Januar auch ein Steinway D-Flügel zum Inventar gehören. „Durch die Stellmöglichkeiten der Vorhänge und die prinzipiell sorgfältig konzipierte Akustik bietet der Saal ein extrem variables Klangbild“, konstatiert KP Werani. „Die Zuhörer*innen können dort verblüffend direkt und differenziert akus­tisch adressiert werden. Besonders im Bereich geringer Lautstärken sind äußerste Unterschiede möglich.“

Natürlich gibt es in Fällen wie diesem auch immer kleine Mankos. Die Musiker stellen fest, dass bei laufenden Aufführungen das Studio nicht zum Einspielen genutzt werden kann, da der Lärmschutz nicht garantiert ist (besonders bei Blasinstrumenten). Hier fehlt noch eine akustische Trennwand. Problematisch erscheint auch der Betrieb im Sommer, da es keine Klimaanlage gibt und ein gefüllter Konzert­raum schnell die Temperaturen ins Unerträgliche hochtreibt. Es mehren sich auch Stimmen, die eine Namensänderung gutheißen würden, denn was hat die militaristische Schwere Reiterei mit einem Spielort für Tanz, Theater und Musik gemein?

Programmfeuerwerk

Schon in den ersten Wochen des Spielbetriebs wird deutlich, dass „scope“ nicht in programmatische Nöte geraten wird. Im Eröffnungskonzert am 17. September erklangen „Die Scherben Des Alten Europa“ von Claas Krause, „….von Liebe singen“ mit Cornelia Mélian und Helga Pogatschar, sowie Saxophonquartett Le Fou Rohr von Christoph Reiserer, „MÜNCHNER SZENERIEN“ von Johannes X. Schachtner als auch „Epitaph B-C“ von Alexander Strauch und „SPUNDWAND_1 mit 4 Hommages von KP Werani.

Formate wie das „Songbook“ des Münchener Kammerorchesters beweisen erfreuliche Standfestigkeit – bewegt sich doch das MKO irgendwo im Grenzbereich: eigentlich nicht zur Freien Szene gehörend, wohl aber als Kammerorchester auch in kleineren Besetzungen spielend. Das Repertoire des MKO hat hier eine Schlüsselfunktion inne, denn es verfügt über ein großes Quantum an eigens vom Orchester vergebenen Kompositionsaufträgen.

Sowohl diese als auch exemplarische Werke des modernen Streichorchesterrepertoires sollen hier wieder geprobt, in einer Art Werkraum-Atmosphäre ausgelotet und aufgeführt werden. Die Umrahmung des Raumes, die Ausleuchtung und der flexible Einsatz der Vorhänge erweisen sich als gewinnbringend für den Orchesterklang, urteilt Florian Ganslmeier, Geschäftsführer des MKO.

Auch das Ensemble der/gelbe/klang hat im Programm des „Schwere Reiter“ einen festen Platz. Im Oktober trat es mit dem Ensemble Schwerpunkt in musikalischen Dialog. Die Münchener Gesellschaft für Neue Musik (MGNM) veranstaltete zum wiederholten Mal ihr jährlich stattfindendes Musikfest im Schwere Reiter – mit fünf Konzertblöcken und einem Improvisers Block. Zum 80. Geburtstag der Experimentalmusikpionierin Limpe Fuchs gab es am 5. November ein „Fuchs-Fest“ mit einer Auswahl ihrer aktuellen Projekte.

Sabine Liebner, die in den letzten Jahren immer wieder mit bahnbrechenden Klavierprojekten auffiel, wird in einem Piano Recital das Klavierwerk von Toshio Hosokawa erstmals in einer integralen deutschen Aufführung im Beisein des Komponisten zu Gehör bringen.

Die Pianistin konzipiert ihre Konzerte mit einer Lecture zum Thema, die Wolfgang Rathert hält. Speziell für das „Schwere Reiter“ hat Brigitte Helbig eine dreiteilige Konzertreihe mit Solowerken für Klavier von Komponistinnen der Gegenwart formatiert. Im zweiten Teil, „#2 Alte Formen neu gedacht“ arbeitet sie traditionelle Strukturen heraus und sucht diese neu zu belichten. In einem Programm ganz anderer Art hat Samira Spiegel, gleichsam perfekt auf dem Klavier und der Violine, mit Hilfe einer Loopstation „Spukhafte Fernwirkung“ von Henrik Ajax für Klavier zu sechs Händen und fünf Violinen nicht nur dem Computer überantwortet, sondern auch am Flügel assistiert.

Aber auch (Erstlings-)Werke für Streichquartett bereicherten das Programm der Schwere-Reiter-Festwochen. Das Zentaur-Quartett mit seinem Konzert „vor Anker“ verwies gleichzeitig auf die titelgebende Uraufführung von Johannes X. Schachtner, bezog aber auch weitere Werke mit naturalistischem Background in das Konzept mit ein. In Zusammenarbeit mit dem Tonkünstler München e.V. wird regelmäßig die Gesprächskonzert-Reihe „dedicated to…“ veranstaltet. Kluge Programm-Macher setzten noch die Improvisation: In einem zweitägigen Soundscapes Festival#3 präsentierten sich mehr als ein Dutzend Eliten der internationalen Avantgarde-Musik, arrangiert vom Offene Ohren e.V.

Großes Spektrum der Akteure

Christiane Böhnke-Geisse kuratiert 35 bis 40 Konzerte im Jahr. Diese muss sie in 15 Wochen Spielbetrieb unterbringen. Alle Konzerte haben eine Schnittstelle zur Neuen Musik, auch wenn sie sich nicht immer in eine bestimmte Kategorie zwingen lassen (Konzert des Christian Wallumrød Ensemble beispielsweise). Fünf bis acht Konzerte sind im Schnitt vollfinanziert. Die anderen Konzerte erhalten Projektförderung oder werden von den Musikern durch eigens akquirierte Gelder abgedeckt. Scope stellt einen jährlichen Antrag beim Kulturreferat; Miete, Technik, Personal, GEMA, KSK, Verbrauchsmaterialien können damit gedeckelt werden. „Ich versuche ein möglichst großes Spektrum der Akteur*innen der Neuen Musik in München abzubilden und gerecht abzuwechseln. Es gibt aber auch Ensembles, mit denen ich recht regelmäßig arbeite, zum Beispiel der/gelbe/klang. Diese brauchen auch einen festen Auftrittsort in München“, so die Wortmeldung von Christiane Böhnke-Geisse. Wünschenswert wäre, dass an das Haus eine halbe Stelle angedockt werden könnte, welche die Szene bei der Organisation und Projektierung unterstützen kann.

Das Gebäude ist definitiv ein großer Zugewinn für die Kulturszene in München. Salome Kammer resümiert: „Der neue Raum ist wunderbar, atmosphärisch, in den Proportionen, in der Akus­tik…“ Immer noch also leben wir in einem Gärungsprozess, der Mut in die Zukunft macht.

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