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Erfolgsmodell „Tietz“ - Das ehemalige Chemnitzer Warenhaus hat sich in einem Jahr zu einem gut besuchten Kulturzentrum entwickelt. Als bundesweit einzigartiges Beispiel kultureller Vernetzung ins Leben gerufen, hat das Chemnitzer „Tietz“ am Sonntag sein erstes Jahr hinter sich. In dem ehemaligen Warenhaus - 1913 von Hermann Tietz gegründet und zuletzt bis 2001 unter Kaufhof-Regie - befinden sich vier öffentliche Einrichtungen, Veranstaltungsräume, Geschäfte und ein Café unter einem Dach. Und bei rund 700.000 Besuchern in einem Jahr in Stadtbibliothek, Volkshochschule (VHS), Naturkundemuseum und Neuer Sächsischer Galerie spricht Betriebsleiter Werner Rohr von einer Resonanz, die die Erwartungen weit übertroffen habe.
So verdoppelte sich die Nutzerzahl der Stadtbibliothek; für dieNaturkunde interessierten sich allein im ersten Dreivierteljahr fast
fünfmal soviele Menschen wie früher; in der Museumsnacht im Mai lag
das „Tietz“ bei der Besucherzahl mit weitem Abstand vor
Industriemuseum und Kunstsammlungen. Bis Juni fanden etwa 1.200
Veranstaltungen statt, darin eingeschlossen die Volkshochschulkurse
ebenso wie Einführungen in den elektronischen Bibliothekskatalog oder
pädagogische Angebote des Naturkundemuseums. Darüber hinaus gab es
Vorträge, Lesungen und Konzerte unter anderem mit den Politikern
Joschka Fischer und Oskar Lafontaine oder der Gruppe Les Tambours du
Bronx. Ausstellungen zeigten die weltbesten Naturfotografien oder
Karikaturen aus ganz Deutschland.
Außerdem verbesserten sich in dem von der stadteigenen
Grundstücks- und Gebäudewirtschaftsgesellschaft für rund 30 Millionen
Euro sanierten Haus die Bedingungen für die einzelnen Einrichtungen
beträchtlich. So verweist Volkshochschuldirektorin Heike
Richter-Beese auf eine Top-Ausstattung für ihre vorher zersplittert
untergebrachte Bildungsstätte. Auf Räumlichkeiten wie das
Gesundheitszentrum und die großzügige Lehrküche blickten ihre
Kollegen aus ganz Deutschland neidisch.
Das „Tietz“ ist auch Anlaufpunkt für ein breites Fachpublikum. So
haben der Deutsche Bibliotheksverband, Bibliothekare aus Tschechien
und der Türkei, die sächsischen VHS-Leiter und die Architekten- und
die Ingenieurkammer des Freistaates die Erfahrungen der Chemnitzer
bei Sanierung und Betrieb des Hauses studiert, aber auch das
Goethe-Institut oder der Sächsische Lehrerverband. Laut Rohr haben
mehr als 20 Städte ihr Interesse am „Tietz“-Konzept bekundet. Dennoch
stehe man mit der Kooperation und Vernetzung und der überregionalen
Ausstrahlung erst am Anfang.
Auch die Zahl der privat Neugierigen reißt kaum ab. Meist seien es
ehemalige und ältere Chemnitzer, die das neue Innenleben des 1912/13
errichteten Warenhauses näher kennen lernen wollten, berichtet eine
Gästeführerin. Fast alle seien erstaunt über die Größe und Helligkeit
und das - durch drei Lichthöfe bedingte - offene Prinzip in allen
Etagen. Viele kämen auch wegen des weltweit einmaligen Versteinerten
Waldes von Chemnitz, der den Mittelpunkt des Hauses bildet. Als
Alltagseinrichtung machten die Bürger jedoch noch zu wenig Gebrauch
vom „Tietz“.
Viele ärgert es allerdings, dass die oberen Etagen im „Tietz“
mittwochs geschlossen sind, während draußen das Leben pulsiert.
Sonntags hingegen gleicht das Stadtzentrum meist einer Schlafstadt
und es zieht relativ wenig Leute ins Naturkundemuseum und die
Galerie, die trotzdem geöffnet haben. Doch die Öffnungszeiten seien
ein Kompromiss zwischen den Geschäftszeiten ringsum, dem Wunsch nach
Öffnung des Hauses auch am Wochenende und der durch die Stadt
abgesegneten Personalausstattung, begründet Rohr. Ihm wären zehn
Mitarbeiter mehr recht, um einen Sieben-Tage-Betrieb zu realisieren,
aber das ist wohl derzeit illusorisch.