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Schwierige Reformen benötigen in der Regel eine längere Anlaufzeit. Für die letzten drei Jahre seiner Intendanz bei den Salzburger Festspielen initiierte Gerard Mortier drei Opernuraufführungen. Aufträge erhielten Luciano Berio, Kaija Saariaho und Matthias Pintscher. Den Auftakt des Premierenreigens bildete Luciano Berios „azione musicale“ mit dem Titel „Cronaca del luogo“ – deutsch: „Chronik des Ortes“. In der Felsenreitschule gestaltete sich die Uraufführung für den Komponisten Berio, für den Dirigenten Sylvain Cambreling und den Regisseur Claus Guth zu einem einhelligen Erfolg.
Klang- und Klagemauer (Foto: Charlotte Oswald)
Im letzten Frühjahr gab es in Gütersloh ein dreitägiges Berio-Festival. Der Komponist dirigierte eigene Kompositionen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, das Ensemble Musikfabrik NRW und das Arditti String Quartet gestalteten die beiden anderen Konzerte. Filme, Vorträge und eine wunderbare Ausstellung aus den Archiven der Paul-Sacher-Stiftung Basel und der Universal Edition Wien komplettierten das Bild des italienischen Komponisten. Die gespielten Werke stammten aus vier Jahrzehnten und boten ein faszinierendes Panorama einer kompositorischen Entwicklung, die immer stärker, immer konsequenter von der Musik, vom Klang und den Anverwandlungen anderer Ausdruckselemente, von Texten und Bildern, geprägt ist.
„Cronaca del luogo“ bedeutet in dieser Entwicklung vorerst den Höhepunkt, gleichsam die Summe von Berios musikalischer Ästhetik. Ein Werk der Reife, der Sublimierung, in gewisser Weise auch der Vollendung – was mit Vorsicht gesagt sei: Luciano Berios wachem Geist, seiner musikalischen Inspiration sind weitere „Vollendungen“ zuzutrauen.
Luciano Berios „Cronaca del luogo“ ist, wie der Komponist ausdrücklich betont, für den Spielort der Felsenreitschule konzipiert. Die rückwärtige Felsmauer mit den auch noch seitlich sich fortsetzenden, durch Bögen und Säulen markierten Wandlogen, stellt den eigentlichen Handlungsträger des Werkes dar, zu dem auch der freie Platz vor Mauer und Logenreihen gehört, die „Piazza“, auf der diverse Aktionen ablaufen. Die Erscheinung der Mauer bleibt nun nicht abstrakt, eine leblose Dekoration, sie wird vielmehr personifiziert und musikalisiert. In den Logen nehmen, verborgen durch Schleiervorhänge, die zwar den Ausblick auf den Dirigenten aber nicht den Einblick aus dem Zuschauerraum gestatten, Instrumentalisten und Chorsänger Platz. Die Mauer beginnt zu klingen. Korrespondierend zur klingenden und singenden Mauer komponiert Berio eine „harmonische Mauer“ als Basis des Werkes. Berio bezeichnet sie als eine Art von „Reihen“, aus denen er die Klänge ableitet. Diese Ableitungen gewinnen für die Organisation und Strukturierung der Musik entscheidende Bedeutung.
Der General ruft zur Schlacht (Foto: Charlotte Oswald)
Die Raum-Klang-Wirkung erreicht zusätzliche Plastizität durch elektronische Verstärkung. Der Klang bleibt nicht statisch an die Positionen der Stimmen in der Mauer gefesselt, sondern er wird in der Mauer in Bewegung versetzt, wobei dann auch die Instrumente selbst sich von Loge zu Loge bewegen. Auf diese raffinierte Manier, Positionswechsel und elektronische Umsetzung, erscheinen manche instrumentale Kombinationen gleichsam verdoppelt, was vor allem bei den drei Posaunen zu er-hören ist: sie erscheinen wie sechs. Zusätzlich zu diesem fest installierten Instrumentarium treten in einzelnen Szenen noch Musiker (Violine, Klarinette, Akkordeon) auf der Bühne auf. Das Instrumentarium besteht im übrigen aus Piccoloflöten, Flöten, Oboe, sieben Klarinetten, vier Saxophonen, Fagott, vier Hörnern, Posaunen, zwei Baßtuben, Streichern und zwei Schlagwerkgruppen.
Die musikdramatische Funktion der Mauer, so wie sie Berio konzipiert, bestimmt zugleich die szenischen Ereignisse. Berio hat das Libretto gemeinsam mit seiner Frau Talia Pecker Berio entwickelt. Es benutzt Abschnitte, Geschehnisse, Bedeutungen aus dem Alten Testament. Berio weist in einem Gespräch auf die Vieldeutigkeit des Wortes „Ort“ hin: Es steht als Metapher für „Gott“, dessen Namen man im jüdischen Kulturkreis nicht ausspricht. Berio dachte an die Mauern von Jericho, aber auch an banalere Funktionen von „Mauern“: Mauer als Schutzwall, als Einkerkerung, als Wohnstätte, als Baustelle oder als Heimat, die man verlassen muß. Die Mauer ist die architekturale Konstante, während auf der Piazza davor, sich verschiedene Ereignisse abspielen: der Platz ist Versammlungsstätte der Menschen, aber auch gefährliche für Massenaufläufe. Auf dem Platz treten auch Individuen auf: Krieger, Klageweiber, Dichter, Seher und Engel. Berio erzählt nun keine kontinuierliche Geschichte, sondern entwirft und strukturiert die Szenen assoziativ. Seine wichtigste Figur ist „R“ (der Buchstabe sollte ursprünglich Titel des Werkes werden) – ein dramatischer Sopran. Berios dachte dabei an die Sängerin Hildegard Behrens, die nun auch bei der Salzburger Uraufführung die Partie grandios gestaltete: in „R“ sind die Erinnerungen an die Geschehnisse gesammelt, die sich vor der Mauer und auf der Piazza ereigneten. Sie ruft diese Geschichten mit ihrem Gesang wieder aus dem tiefen Urgrund herauf, eine Schwester der Erda. Ihre Laute richten sich an die Mauer, die im Echo die Geschichten, die in ihr leben, zurückwirft. Aber es sind keine konkreten, narrativen Mitteilungen. Alles verwandelt sich in Klang, Klagelaut, in die expressive stimmliche Gebärde. Wer den Gesang vernimmt, erfährt auch die Geschichten, die in ihm verschlossen sind.
Gegliedert ist das Werk in einen Prolog und in fünf Bilder, die besser als „Situationen“ bezeichnet werden. Im Prolog wird zu tiefen, dunkelfarbigen Bläserklängen von den Chören in der Mauer und auf der Piazza die Nacht („notte“) beschworen, aus der sich alles entbirgt. In einer großen Arie ruft „R“ die Nacht an, um die „Erinnerung zu entzünden“. Es folgt die „Belagerung“. „R“, in der Rolle der biblischen Rahab, schickt zwei Männer fort, die von der Liebe singen. Ein General und Phanuel – eine Erinnerung an den Engel – führen einen Dialog. Der General ruft zur Schlacht, Phanuel bittet um den Schutz der Bäume. Musik und Menschen auf der Piazza suggerieren die Eroberung und Zerstörung Jerichos. Das zweite Bild – „Das Feld“ (Il campo) – beginnt mit den Vorahnungen die „R“ befallen. Zu „R“ gesellt sich Orvid, nach den Intentionen der Librettistin ein „poetisches alter ego“ von „R“. Ein Altersloser, von Kindern gefolgt, prophezeit auf der Piazza „große Regengüsse“ – die vom Mauer-Chor als „Blut, das auf Stein herabfällt“, gedeutet wird. In der dritten Szene füllt sich die Bühne mit Baumeistern und Aufsehern. Der Turmbau (zu Babel) endet in Getöse, Aggression und in sprachlicher Verwirrung – es ist eine Szene von äußerster Energieentfaltung und Kraft.
Das Gegenbild bildet die vierte Szene, „La casa“ (Das Heim). Die Mauer strahlt leuchtend von innen auf, man erblickt die Musiker und Chorsänger wie im Querschnitt eines Wohnhauses. Auf diese Nacht folgt der „Tag“ auf der Piazza. In einer zweiten großen Arie warnt „R“ vor einer drohenden Katastrophe und fordert die Menschen zur Flucht auf.
Bedrohliche Figuren in Trenchcoat und Stiefeln scheinen den „Platz“ in Besitz nehmen zu wollen. „R“ fordert die anderen auf zu singen. Die Worte stammen von Paul Celan: „Flöte, zweifache Flöte der Nacht, entzünde die Frage in der Nacht, niemand gibt Antwort im nächtlichen Wind, dann kommt das Feuer, und nach dem Feuer der Klang einer langen Stille. Setz deine Flagge auf Halbmast, Erinnerung. Heute und für immer“. Da gewinnt Berios „Cronaca del luogo“ eine brennende, schmerzvolle Gegenwärtigkeit, wenn der Chor in geschlossener Formation einfach nur so dasteht vor der „Mauer“: Ghetto und Holocaust erscheinen als „ewige Wunde“, für die es keine Erklärung gibt, wie „das passieren konnte“ (Berio). Die Fragen bleiben, es gibt keine Antwort. „Cronaca del luogo“ endet in einer stillen Verzweiflung.
Werke wie Berios „Cronaca del luogo“ erfordern für eine szenische Aufführung die kongeniale Phantasie eines Regisseurs, zumal bei der Uraufführung. Unter diesem Aspekt ist der ersten szenischen Realisierung durch Claus Guth und seines Bühnen- und Kostümbildners Christian Schmidt hohe Anerkennung zu zollen. Natürlich ist die „Mauer“, die imposante Kulisse der mitspielenden Felsenreitschule schon die halbe Inszenierung. Aber für die Auftritte auf der Piazza, die Kompositionen der sichtbaren Chorbewegungen, für Gestik und Gebärden müssen entsprechende Darstellungen gefunden werden. Im Vorfeld der Premiere erfuhr man von Differenzen zwischen dem Komponisten und dem Regisseur. So etwas gehört oft zum Alltag einer Uraufführung. Jeder hat sein eigenes Bild vom Werk und seiner Darstellung. Guths erstes „Angebot“ für Berios azione musicale wird dem Werk durch Ernsthaftigkeit, Eindringlichkeit und geistige Durchdringung voll gerecht. Ob sich andere, womöglich erschreckendere Visionen für die „Chronik des Ortes“ erfinden lassen, müssen Folgeaufführungen ergeben. Berios „Cronaca“ selbst steht am vorläufigen Endpunkt einer Subli-mierung der künstlerischen Ausdrucks-mittel: Berios Klänge wirken wie in eine Mauer gemeißelt, aus der sie auf geheimnisvolle Weise wieder herauszuklingen scheinen als Klang gewordene Erinnerungen, die unser aller Erinnerungen sind. In der musikalischen Interpretation von Sylvain Cambreling und dem Klangforum Wien, dem Arnold Schönberg Chor und dem Tölzer Knabenchor wurde diese kompositorische Verfeinerung, die Beredtheit der Klänge im inneren Verschweigen ebenso wie in der aggressiven Entladung eindrucksvoll erfahrbar. Cambreling, der auch die „Damnation de Faust“-Aufführung leitete, ist mit diesen beiden Interpretationen zu einem wichtigen Dirigenten für die „neuen“ Salzburger Festspiele geworden.
Eine Anmerkung zu den Festspielen 1999: Die Nachfolge für Gerard Mortier, der seinen Salzburger Vertrag nicht über das Jahr 2001 verlängert hat, beschäftigte sozusagen das Rahmenprogramm des Festivals. Eine Findungskommission wurde ernannt, die einen geeigneten neuen Direktor für die Festspiele entdecken soll. Mortier hat in diesem Jahr das Festspielprogramm in seinem Sinne weiterentwickelt. Die Berio-Uraufführung, die Inszenierungen von Busonis „Doktor Faust“ und Berlioz’ „La Damnation de Faust“ demonstrieren ebenso wie die Wieder-Aufführungen von Rameaus „Les Boréades“ (Regie: Karl Ernst Herrmann und Ursel Herrmann), Verdis „Don Carlos“ (Regie: Herbert Wernicke), Mozarts „Zauberflöte“ (Regie Achim Freyer, in einer Messehalle als neuem Spielort) sowie Alban Bergs „Lulu“ (Regie: Peter Mussbach) den Willen, die Festspiele zu einem Forum des neuen Musiktheaters zu erheben, von dem eine wichtige Signalwirkung in Richtung Kulturpolitik ausgehen sollte. Darüber muß diskutiert werden.