Im Zuge der territorialen Neugliederung des Deutschen Reichs unter französischer Besatzung wurden 1803 tausende Kirchen, Klöster, Kapellen und Liegenschaften des Klerus säkularisiert. Viele Gebäude wurden abgerissen, als Baumaterial verkauft oder anderweitig genutzt. Gegenwärtig treten jedes Jahr zwei- bis vierhunderttausend Menschen sowohl aus der katholischen als auch der evangelischen Kirche aus. Rapide schrumpfende Gemeinden werden daher zusammengelegt und immer weniger Kirchen gebraucht. Sakralbauten werden säkularisiert und – wie schon seit Längerem in den Niederlanden – zu Buchläden, Cafés, Kleidergeschäften, Fitnessstudios, Kinos oder Konzertsälen umfunktioniert.
Musikalisches Wachstum gegen Kirchenschwund
Die katholische St. Rochuskirche in Köln-Bickendorf tritt diesem Wandel offensiv entgegen. Im Kölner Nord-Westen an der Äußeren Kanalstraße eher peripher gelegen, ist hier in den vergangenen Jahren ein neues Gemeinde- und Kulturzentrum entstanden. Weitere Ausbauten sollen die Kirche nun noch stärker für die Stadtgesellschaft und Musikszene öffnen. Seit 2006 gibt es die Rochus Musikschule e.V. mit vielen eigenen schallisolierten Räumen für Konzerte, Einzel- und Gruppenunterricht, Elektronik, Technik- und Schlagzeugfundus. Die über fünfzig Lehrenden sind Akteure der Kölner Musikszene sowie Alumni der Hochschule für Musik und Tanz, darunter die Schlagzeugerin Rita Soares sowie die beiden Komponisten Francisco C. Goldschmidt und Mazyar Kashian, die Gitarre beziehungsweise Klavier unterrichten. Mit „BiOs Inn“ verfügen die Nachbargemeinden Bickendorf und Ossendorf seit 2015 über einen akustisch ausgezeichneten und mit professioneller Bühnen-, Licht- und Audiotechnik ausgestatteten Konzertsaal für bis zu zweihundert Menschen. Anfang September gastierten hier Thomas von Steinacker und David von Bassewitz mit einer Multimedia-Lesung ihrer Graphic Novel „Stockhausen: Der Mann der vom Sirius kam“, gefolgt vom Ensemble „oh ton“ aus Oldenburg mit konzertanten Szenen aus Stockhausens „SAMSTAG aus LICHT“, darunter Dozenten und ehemalige Studierende der Stockhausen-Kurse Kürten, allen voran Paul Hübner als hervorragender Michaels-Trompeter.
Treibende Kraft hinter allen Musikinitiativen ist der Kölner Regionalkantor, Komponist und Organist Wilfried Kaets. Er schrieb rund 180 Stummfilmvertonungen, die er international bei über 450 Life-Veranstaltungen in Philharmonien, Kinos und Kirchen präsentierte, auch in der Kölner Rochuskirche. Das 1849 errichtete, später erweiterte, im Krieg zerstörte und 1949 wiederaufgebaute Gebäude eignet sich für Kino, Konzert und Musiktheater, weil die Akustik nicht zu hallig ist und Architektur, Ausstattung und Ausstrahlung relativ neutral sind. Seit drei Jahren wird das Gebäude grundlegend saniert. Es verfügt inzwischen über ein Kabel-, Audio- und Scheinwerfersystem samt Regieraum, das es erlaubt, die installierte Licht- und Soundanlage von überall im Kirchenraum zu steuern. Außerdem wird die Orgel restauriert und zum MIDI-Instrument erweitert.
Umbau Multifunktionskirche
Nun möchte die Gemeinde die Kirche zu einem multifunktional nutzbaren Raum für Gottesdienste, Musik, Kino, Tanz, Theater, Performances und Installationen umgestalten. Die Anstöße und ersten Skizzen dazu stammen ebenfalls vom umtriebigen Wilfried Kaets. Der Altarraum soll zu einer größeren Bühne ausgebaut werden. Und im hinteren Teil des Kirchenschiffs könnte eine steil ansteigende Publikumstribüne mit darunter liegendem neuem Kammermusiksaal geschaffen werden. Einen vergleichbaren Einbau gibt es seit 2015 in der Christuskirche Hannover, dessen fünfzehn ansteigende Sitzreihen einen Probenraum für das Kinder- und Jugendchorzentrum überdachen. Möglich wäre auch der Einbau einer mobilen Tribüne, deren Klappsitz-Reihen sich zu einer kompakten Wand einfahren lassen, so dass sich das Langhaus weiterhin als große Freifläche nutzen lässt.
Die Kölner Musik-, Theater- und Tanzszene hat einen großen Bedarf an Räumen für Experiment, Proben, Präsentation. Die umgebaute Rochuskirche könnte eine neue Stätte bieten. Hilfreich wäre dafür eine Spielstättenförderung durch das Kulturamt der Stadt Köln und/oder das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW. Auch eine Kooperation mit der HfMT Köln wäre denkbar. Studierende veranstalten ihre Konzertexamen immer häufiger außerhalb der Hochschule, um sich der Öffentlichkeit zu präsentieren und mit anderen Musikschaffenden und Veranstaltern zu vernetzen. Demnächst vielleicht in der Kulturkirche St. Rochus?
Die Kölner Stadtteile Bickendorf, Ossendorf und Neu-Ehrenfeld werden seit dreißig Jahren verdichtet und gentrifiziert. Auf einstigen Industriebrachen entstanden zahlreiche Wohnhäuser für zehntausende Menschen. Die Verkehrsanbindung mit U- und S-Bahn ist gut und die Dichte an Clubs und Gastronomie nimmt zu. Das Kulturzentrum St. Rochus mit Musikschule, Konzertsaal und demnächst umgebauter Kulturkirche ist Mittelpunkt eines neuen urbanen Umfelds. Vielleicht wird das Konzept zum Umbau der Kirche dereinst zum Vorbild für andere Gemeinden in Deutschland? In jedem Fall verheißt es schon jetzt eine vielversprechende Alternative zu Kirchenaustritten und Säkularisierungen, weil es der Gemeinde ein lebendiges Fortbestehen eröffnet und der Kirche – allen Krisen zum Trotz – eine intensivere Nutzung und stärkere Einbindung in Kultur- und Stadtleben.
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