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Nullnummer: Jugend und Musik, Kunst, Kultur – in Berlin?

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Es geht um 100 000 Euro, die jährlichen Leistungen Berlins für das Landesjugendorchester, das Landesstreichorchester und den Regional- und Landeswettbewerb «Jugend musiziert». Berlins Jugendsenator Klaus Böger strich sie komplett. Ein Kommentar von Michael Jenne.

Angenommen, Berlins Landesoberförster verlautbarte während einer sommerlichen Dürre: Bei anhaltender Trockenheit und sinkendem Grundwasserspiegel müssen wir uns bei allen Alleen, in den Gärten, Parks und Forsten darauf beschränken, die Baumkronen zu befeuchten, denn die Blicke der Betrachter richten sich schließlich auf die Blütenpracht im Frühjahr, auf die Belaubung im Sommer und im Herbst; eine Bewässerung der Stämme und erst recht des kaum sichtbaren Wurzelwerks können wir uns unter diesen Umständen nicht leisten.
Wäre der Mann ernst zu nehmen?
Als leitender Angestellter beim Senat von Berlin käme er vermutlich durch. Denn von vergleichbarer Logik und vergleichbarem Sachverstand zeugen die Sparmaßnahmen, die im Bereich von Jugend und Kultur seit längerem schon zu beobachten sind und in diesen Tagen noch radikaler verordnet werden. Da sind bereits die Mittel für die Musikschulen dermaßen gekürzt, dass mehr als 100000 Plätze verloren gingen; da sind längst die einst von der Jugend-verwaltung finanzierten Jugendkonzerte aus dem Veranstaltungskalender verschwunden.
Nun teilt das Landesjugendamt dem Landesmusikrat (LMR) Berlin mit, dass die – ohnehin nur noch spärlich fließenden – Projektmittel für das Landesjugendorchester, das Jugend-streichorchester und auch für die Wettbewerbe „Jugend musiziert“ bereits vor Ende dieses Jahres ganz und gar gestrichen werden sollen. Es handelt sich dabei um den jährlichen Gesamtbetrag von € 100 000. Und damit möglichst keines dieser Förderprojekte kultureller Jugendarbeit aus Mitteln des Senators für Wissenschaft, Forschung und Kultur doch noch gerettet werden kann, wird dem Landesmusikrat auch gleich die ebenfalls bescheidene Zu-wendung der Kulturverwaltung - im vergangenen Jahr gab es noch alles in allem € 130 000 - um 13 % gekürzt.
Lohnt es aber eigentlich, bei Einsparungen in dieser Größenordnung öffentlich zu räsonieren? Ja, dreimal ja, denn wichtig erscheint eine jugend- und kulturpolitische Auseinandersetzung schon wegen der Argumentation der Landesjugendbehörde, geäußert gegenüber Journalisten: Die Aktivitäten des LMR hätten schon seit Jahren zur Disposition gestanden, denn da handele es sich um Begabtenförderung, und die sei nicht definiert als Jugendarbeit; bei unvermeidli-chen Kürzungen habe man nur jene Initiativen belassen, die den Prüfungen sozialer Bedürftigkeit standhalten, und das könne man bei den Projekten des Landesmusikrates ja nicht behaupten...
Da also wird eine – freilich spindeldürre – Katze aus dem Sack gelassen, werden längst überwunden geglaubte ideologische Klischees einer vordemokratischen Gesellschafts- und Jugendpolitik wieder bedient, denen zufolge die Beteiligung an Kunst und Kultur Angelegen-heit einer privilegierten Oberschicht ist, die dafür, zumal in Zeiten leerer Kassen, gefälligst selbst aufkommen soll. Jugendpolitik wird, da das Geld fehlt, reduziert auf Sozialarbeit für Kinder aus benachteiligten Familien oder Haushalten. Ist das allen Ernstes die Position des Senats von Berlin, der bei der Regierungsbildung vor wenigen Monaten noch Bildung und Kultur zur kürzungsfreien Zone erklärt hatte?
Spätestens seit den sechziger Jahren hat sich, gestützt auf Untersuchungen der Sozialisations- und Bildungsforschung wie auf Beobachtungen und Datenanalysen, die Erkenntnis verbreitet, dass die praxisnahe Vermittlung von Kultur in möglichst vielen ihrer Facetten, ganz besonders die Vermittlung von Musik als am meisten kommunikative Kunstdisziplin, ein wesentlicher Faktor humaner Erziehung sein sollte, mit besonderem Transferwert auf die Lern- und Leistungsfähigkeit in anderen Fächern, auf Kreativität, geistige wie emotionale Sensibilität und damit auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung. Dem steht jedoch schon längst, fast überall in Deutschland und auch in Berlin - das noch weiter wachsende Defizit an qualifiziertem Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen entgegen. Umso dringli-cher und unverzichtbarer sind daher alle Aktivitäten und Projekte, die Kinder und Jugendliche außerhalb der Schule mit künstlerischen Prozessen in Berührung bringen und sie teilhaben lassen an dem, was über alles Ordinäre, über die Befriedigung der materiellen Grundbedürf-nisse, über die Aneignung zweckbezogener Fertigkeiten hinausführt.
Bei der Mitwirkung in Jugendorchestern unter künstlerisch und pädagogisch qualifizierter Leitung oder bei der Teilnahme an einem Wettbewerb wie „Jugend musiziert“, nach gründli-cher Vorbereitung und mit anschließender Beratung durch die Jury, geht es deshalb gar nicht vorrangig um die professionelle Nachwuchsförderung für Konzertpodium und Opernbühne, wohl aber um einen wichtigen Aspekt humaner Erziehung, um die Vermittlung von Erkennt-nissen und Erfahrungen, die Lebensqualität bedeuten.
In seinem Grußwort zum Abschluss des 37. Bundeswettbewerbs „Jugend musiziert“ vor zwei Jahren in Berlin hatte Bundespräsident Rau als Schirmherr dieser Wettbewerbe pointiert geäußert: „Kunst und Kultur sind nicht wie Sahne auf dem Kuchen, die man dazu nimmt, wenn es einem gut geht, sondern sie sind die Hefe im Teig. Wer diese Hefe nicht in den Teig tut, der bekommt Steine statt Brot.“ Klaus Böger, auch damals bereits Jugendsenator, war bei dieser Veranstaltung wohl nicht anwesend.
Wenn wir, anstatt die Mittel und Wege der Vermittlung von Kunst als dem Außerordentlichen zu verstärken und möglichst vielen zugänglich zu machen, die bereits zu wenigen Projekte kultureller Jugendbildung um eines lächerlichen Spareffektes willen auch noch streichen, dann versündigen wir uns an der Jugend, für die und deren Zukunft Politik in erster Linie gemacht werden sollte. Dann übrigens können wir uns auch die vergleichsweise hundert- oder gar tausendfache jährliche Zuwendung an hochrangige künstlerische Institutionen sparen. Denn wozu soll man letztlich Baumkronen pflegen, wenn keiner mehr spazieren geht?

(Dr. Michael Jenne gehört dem Präsidium des Landesmusikrates Berlin an.)
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