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Die Salzburger Festspiele bieten dem Besucher eine fast schon beängstigende Fülle an Veranstaltungen. Wer sich jedoch genauer im Programmangebot umsieht, entdeckt das dramaturgische System: Jeder kann sich im Festspiel sein Festspiel aussuchen und gleichsam komponieren. Die Retrospektive nützt dabei für den nächsten Besuch. Man kann sozusagen die „Inseln“ markieren, bei denen man anzulegen gedenkt.
Es soll inzwischen Festspielbesucher geben, die Salzburg als ein anderes und reichhaltigeres Donaueschingen betrachten. Gelegenheit, sich dieses zu imaginieren, gibt es genug. In diesem Sommer bot das in die Festspiele inzwischen integrierte „Zeitfluß“-Festival ein siebenteiliges „Theater der Klänge“, faszinierende Perspektiven auf die Klangforschungen und Klangexperimente der Musik unserer Zeit. Darüber haben wir in der letzten Ausgabe (nmz 9/1999) ausführlich berichtet, ebenso wie über die Uraufführung von Luciano Berios neuer „Oper“, der „Szenischen Aktion“ mit dem Titel „Cronaca del luogo“, die „Chronik des Ortes“, der in diesem Fall mit dem Uraufführungsort, der Felsenreitschule, identisch ist.
Hohes Interesse durfte in der Oper auch das „Faust“-Doppel – Busonis „Doktor Faust“ und Berlioz‘ „La damnation de Faust“ – beanspruchen. Der Regisseur Peter Mussbach zwang Busonis diversifizierende Szenenmontage in die Einheit einer „Kopf“-Vision, magisch, bildstark, faszinierend, von Kent Nagano in intelligenter Korrespondenz (mit den Wiener Philharmonikern) musikalisch grandios beglaubigt. Von Berlioz’ „Faust“-Montage zeigten wir in der letzten Ausgabe auf dem Titelbild schon den transparenten hohen Turm, in dem und um den herum sich die Szenen abspielen: Ein Ort der Verschmelzungen und Transformationen der Figuren – ein Faust für das Jahrtausendfinale und für die Magie einer Sonnenfinsternis. Die spanische Theatergruppe „La Fura del Baus“, die den Berlioz in der Felsenreitschule in Szene setzte, inszenierte am Tag der Sonnenfinsternis auf dem Gaisberg bei Salzburg ein „Faust“-Projekt, das sowohl das Naturereignis als auch die Opernaufführung reflektierte; außerdem brachten sie noch ihre Schauspielarbeit von „F(a)ust Version 3.0“ nach Salzburg. Auf der „Faust-Insel“ konnte der Interessierte also schon beinahe die halbe Festspielzeit aufregend angeregt verbringen.
Eine andere „Insel“ hielt der Pianist Maurizio Pollini besetzt. Vor vier Jahren schon gaben die Festspiele dem Künstler Gelegenheit, sein Musik-Denken in fünf Konzerten zu präsentieren. Der Erfolg damals führte nun zu dem siebenteiligen „Progetto Pollini II“, ausgebreitet über die gesamte Festspielzeit. Die sieben Konzertabende avancierten zu einem Höhepunkt des Festivals, zum musikalischen und intellektuellen Zentrum, dessen Gedächtnis ein von Jürg Stenzl ediertes Programmbuch aufbewahrt, mit einer Fülle von Informationen, Texten der Komponisten zu ihren Werken und einigen brillanten Aufsätzen.
In den sieben Konzerten, die den „Progetto Pollini“ bildeten, waltete eine überlegte Dramaturgie: Werke aus sieben Jahrhunderten wurden von Pollini zu sinnstiftenden Programmen gleichsam „komponiert“. Nur ein Beispiel: Im ersten Konzert umschlossen Ockeghems „Missa Prolationum“ zu vier Stimmen und Beethovens „Große Sonate für das Hammerklavier“ op. 106 die Uraufführung von Giacomo Manzonis „Trame d’ombre“ (Schattengespinst) für Sopran, Tenor, Chor-und Instrumentalensemble.
Manzonis Werk, im Stil eines „konzertanten Madrigals“, ist inspiriert von einem No-Stück von Zeami, das jedoch nurmehr als „Essenz der poetischen Aussage“ erscheint. Es gibt weder formale Verweise auf die No-Ästhetik noch japanische Instrumente. Nur eine der differenzierten Akkordbildungen der Shô-Mundorgel lieferte das harmonische und melodische Material für Manzonis Komposition, die in einer magischen Klangbeschwörung die traumatische nächtliche Begegnung von Mann und Frau „erzählt“. Aus der Verdichtung von szenischer Vorlage und expressiver Klanggestik, die formal äußerst bewusst kalkuliert erscheint, erwächst ein spannungsvolles, farbreiches, fast süffiges Stück Musik.
In dieser Hinsicht korrespondierte es unmittelbar mit Ockeghems komplizierter, kunstvoll komponierter Kanon-Struktur, ebenso mit Beethovens „Hammerklavier“-Sonate, die in Pollinis Darstellung ihren autonomen Kunst-Charakter plastisch offenbarte: Das Kunstwerk, das sich selbst erschafft und legitimiert.
Das Beispiel zeigt, wie überlegt Pollini den siebenteiligen Zyklus seines „Progetto“ konzipierte. Sein persönliches Engagement für die musikalische Zukunft bezeugten vier Auftragskompositionen eigens für den „Progetto II“, die Pollini mit dem Geld bezahlte, das er vor einigen Jahren als Siemens-Preisträger erhielt. Außer Manzoni schrieben Franco Donatoni, Adriano Guarnieri und Berio neue Werke für den Anlass. Donatoni nennt sein Stück kurz „Poll“, unschwer erkennbar als Verweis auf den Auftraggeber. Vier Instrumentalgruppen umkreisen sich, wechseln sich ab, tummeln sich quirlig auf einer imaginären musikalischen Piazza, doch den vollen orchestralen „Sound“, auf den man gespannt wartet, verweigert „Schalk“ Donatoni. Das Ganze geschieht mit einer behenden, pointierten Virtuosität.
Die dritte Uraufführung brachte die Begegnung mit Adriano Guarnieris „Pensieri canuti“ für Soli, Chor, zwei Ensembles, doppelten Chor und zwei im Saal verteilte Posaunen sowie Live-Elektronik. Der umfangreiche Klangerzeugungsapparat dient der Übersetzung eines dunkel-surrealistischen Textes von Giovanni Raboni. In den „Weißhaarigen Gedanken“ (so der Titel) eines alten Mannes gewinnt das „Singen der Stare“ in einem Kloster etwas eigenartig Bedrohliches, Schreckenerregendesd.
Baudelaires „Künstliche Paradiese“ scheinen hinter den Bildern auf, die Guarnieri mit bemerkenswerter Imagination und einiger Lautstärke in Klangereignisse und Klangbilder ummünzt. Die vierte Uraufführung, Berios „Altra Voce“, knüpfte direkt an die Uraufführung seine „Cronaca del luogo“ an. Das „virtuelle Liebesduett“ (Berio) in der „Il campo“-Episode für zwei Stimmen und Instrumente wird in „Altra Voce“ konzentriert auf eine Mezzo-Stimme, eine Alt-Flöte und Live-Elektronik. Berio versucht in „Altra Voce“, die „Autonomie“ der Stimmen stärker zu profilieren. Man vernimmt ein subtil ausgehörtes, klangsensibles „Duettieren“ der beiden Protagonisten, die aber stets individuell vernehmbar bleiben. Ein konzentriertes, dicht gewebtes, schönes Stück Musik.
Eigentlich müsste man fortfahren, die Fülle der Werke und Perspektiven, die Pollini in seinem „Progetto“ präsentierte, zu beschreiben. Wie der Madrigalgestus eines Gesualdo oder Luca Marenzio in Luigi Nonos Chorwerken aufscheint, wie aufregend Mozarts Quintett Es-Dur für Klavier und Bläser (KV 452) wirkt, wenn es zwischen Schönbergs Bläser-Quintett op.26 und Salvatore Sciarrinos „6 Quartetti brevi“ erklingt und so hinreißend interpretiert wird wie von den Musikern des Ensembles Wien-Berlin, den Besten aus den zwei philharmonischen Eliteorchestern
Das Pollini-Projekt darf in gewisser Weise als repräsentativ für die gesamte Programmkonzeption der Salzburger Festspiele unter Gerard Mortier und Hans Landesmann gelten. Ihre „integrative“ Programmdramaturgie begreift die Musik aus Vergangenheit und Gegenwart als Einheit, als ein großes geschichtliches Kontinuum. Manchmal scheint es so, als ob selbst die zur Beharrlichkeit neigenden Wiener Philharmoniker zur Einsicht gelangt sind, daß die Beschäftigung mit neuer Musik ihrem musikalischen Bewußtseinsstand nicht abträglich sein muß. Ihre Zuneigung zu Pierre Boulez hat in der Aera Mortier schon zu überraschenden Ergebnissen geführt; so bedauerlich war es deshalb, daß Boulez sein Konzert mit den Wienern wegen einer Handverletzung absagen mußte. Immerhin sind die Wiener so weit, stattdessen Kent Nagano zu akzeptieren, der die Musiker klangschön, durchsichtig, ohne jeden Anflug von Larmoyanz Mahlers „Lied von der Erde“ spielen ließ.
Akzeptiert ist auf jeden Fall Sir Simon Rattle, auch wenn er demnächst zur Berliner Konkurrenz wechselt. Rattle dirigierte Mahlers zweite Sinfonie, die „Auferstehung“-Symphonie: klar im formalen Aufriß, lebendig gegliedert in den einzelnen Teilen, kontrastreich, präzis durchgehört das Klangbild und unerhört präzis. Die Wiener Philharmoniker ließen sich zu Hochform hinreißen, den „großen Ton“ Mahlers und das Klangsensorium für seine Musik bringen sie ohnehin von Haus aus mit ein. Rattle stellte der Mahler-Sinfonie beziehungsvoll György Kurtágs „Grabstein für Stefan“ opus 15 voran, eine dichte, expressive Trauermusik zwischen Verstummen und verzweifeltem, fast brutalem Aufschrei. Die Wiener Musiker übten sich in Raumklang und sprangen sogleich dank Rattles Kompetenz in die Meisterschaft. Im nächsten Jahr wollen sie mit Zubin Mehta eigens für die Festspiele Messiaens „Turangalila“-Symphonie einstudieren.
Zu einer festen Einrichtung der Festspiele ist auch das Komponistenporträt eines jüngeren, aber schon bekannten Komponisten geworden. In dieser „Next Generation“ betitelten Reihe haben sich schon Olga Neuwirth, Marco Stroppa oder Karlheinz Essl vorgestellt. Diesmal erhielt der Österreicher Georg Friedrich Haas Gelegenheit, sich mit eigenen Werken sowie mit Stücken seiner musikalischen Vorlieben (Schreker, Scelsi, Webern, Tenney) zu präsentieren. Haas gewinnt seinem mikrotonalen Komponieren, das allerdings höchst variabel und differenziert ausgeführt wird, immer wieder erstaunlich geschlossene „Zusammenklänge“ ab, große Innenspannungen und Klangdichten, wie im „Einklang freier Wesen“ oder der in Salzburg uraufgeführten Novität, kurz und bündig benannt als „Werk für Ensemble und Schlagvzeug“ (mit dem immer souveräner agierenden Wiener Klangforum unter Sylvain Cambreling und der Perkussionistin Robyn Schulkowsky).
Eine weitere Uraufführung gab es bei den Orchesterkonzerten noch mit Clemens Gadenstätters „auf takt“ für großes Orchester. Das halbstündige Werk entwickelt sich sozusagen aus einer kleinen Trommel, aus deren rhythmisch-akustischer Introduktion sich eine Bewegung entfaltet, die schließlich das komplette Orchester ergreift. Das besitzt Klangphantasie, strukturelle Klarheit und Ordnung. Das Prinzip „Trommel“ wird nicht überflutend auf und über das Orchester ausgegossen, sondern bestimmt durchgehend die kompositorische Struktur. Dennis Russell Davies und das Radio-Symphonieorchester Wien waren für die Aufgabe die adäquaten Realisatoren.
Und noch eine Premiere: Davies und sein Orchester hoben auch, umstellt von gehörigem Pomp, zum Festspielende Philip Glass‘ „Choral Symphony“ aus der Taufe, immerhin schon die fünfte des Genres und in zwölf Teilen. Unter dem Titel „Requiem, Bardo and Nimanakaya“ werden Weisheitstexte vornehmlich asiatischer Herkunft von Glass mit minimalistisch komponierten Wellenbewegungen, Kurven und manchmal auch vehementen Steigerungen untermalt. Von den Innenspannungen, die Glass‘ Komponieren in den Opern aufweist, ist hier kaum etwas zu spüren. Es gibt weder produktiv gespannte Korrespondenzen zwischen Text und Musik noch komponierte Einsprüche gegen die verkündeten Weisheiten. Ein Werk für jeden Kirchentag, das eigentlich bei den jetzigen Salzburger Festspielen nichts verloren hat. Als Auftraggeber des Werkes fungierte neben den Festspielen eine Vereinigung, die sich “Music for Peace – A Salzburg Initiative“ nennt.
Negative Eindrücke wie dieser werden schnell überdeckt von den zahlreichen Erfreulichen. Wie dem Auftreten einer richtigen Pianistenschule, der “Accademia Pianistica“ aus Imola. Vier Namen, vier überdurchschnittliche Begabungen: Daniele Pollini führt den berühmten Vaternamen im “Schild“ und auch sein Programm verriet die Verwandtschaft: Stockhausen, Sciarrino, Skrjabin, Ravel, Debussy – hoher Anspruch mit Engagement und Musikalität ausgeführt. Roberto Cominati präsentierte sich mit Debussy und Ravel: ein eleganter Formulierer, der jede Schwierigkeit leichthändig und brillant überspringt. Gianluca Cascioli ist hierzulande schon bekannt (auch schon bei der Deutschen Grammophon vertreten). Busoni, Debussy und Boulez (“Incises“) liegen bei ihm in sicheren Händen, auch wenn man sich manchmal etwas mehr interpretatorische Eigenständigkeit wünschte. Noch ohne Schallplatte, dafür künstlerisch umso profilierter steht der älteste der vier, der 32 Jahre alte Enrico Pace da. Berg, Skrjabin, Busoni und Hindemith (dritte Sonate) werden präzis ausgeformt, mit starkem Ausdruck und pianistisch tadelsfrei gespielt. Die Accademia Pianistica war von nachmittags bis in die späten Abendstunden ein einziges spannungsvolles und informatives Vergnügen, das Nachahmer finden sollte.
Bei den Salzburger Festspielen stößt man, entsprechenden Kunstverstand vorausgesetzt, immer wieder auf Hörenswertes, Rares, Wichtiges: auf Friedrich Cerhas herrliches Streichsextett, für das sich die Ardittis mit zwei Alban-Berg-Kollegen (Kaluska, Erben) verbanden, auf die Mozarteum-Matineen, die seit Hubert Soudants Leitung des Mozarteumsorchesters bemerkenswert an Niveau gewonnen haben. Es findet sich bei den Festspielen fast überall ein entschiedener Wille zu Qualität und weiter Ausstrahlung. Es wird Mortiers und auch Hans Landesmanns Verdienst bleiben, daß sie den Besuch der Salzburger Festspiele auch für ein intellektuell anspruchsvolles Publikum, eines das sich für neue Entwicklungen in der Kunst, der Musik, der Operndarstellung interessiert, quasi zur Pflicht gemacht haben. Alles Gezänk, das auch in diesem Jahr wieder die Festspiele durchdrang, die unterbelichtete Rede eines Bundespräsidenten, Mortiers verständliche, aber überflüssige Reaktionen darauf – auf gewisse Dinge braucht man nicht zu reagieren, sie nivellieren sich selbst –, die eher komische Einsetzung einer “Findungskommission“, die Mortiers Nachfolger ausspähen soll – alles das gerät zur Nebensache, wenn Pollini Schumanns Große f-Moll-Sonate op. 14 spielt, Thomas Hampson und Chris Merritt in Busonis “Doktor Faust“ die beiden Hauptpartien gestalten oder Alvin Lucier seinem “I’m Sitting in a Room“ nachlauscht, bis die Schwingungen des gesprochenen Satzes mit denen des Raumes in eins fallen.