Es gibt eine Vielzahl an Schriften für Musiker, die der Frage nachgehen, wie man am besten und effektivsten übt. Nun also noch ein Buch über das Üben mit dem provokanten, aber auch augenzwinkernden Titel: „Üben hilft eben doch!“ Geschrieben hat es die Dispokineterin und Cellistin Angelika Stockmann. Sie leitete viele Jahre den Ausbildungslehrgang Dispokinesis und ist Lehrbeauftragte am Peter-Ostwald-Institut für Musikergesundheit an der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie Dozentin in der Weiterbildung Musikphysiologie im künstlerischen Alltag an der UdK in Berlin. Ute-Gabriela Schneppat, 2. Vorsitzende des DTKV Hessen, hat mit der Autorin gesprochen.
neue musikzeitung: An wen richten Sie sich mit Ihrem Buch?
Angelika Stockmann: Ich habe das Buch für alle Musiker*innen geschrieben, seien es Profis, Studierende oder interessierte Laien. Es ist gedacht als Handbuch für das tägliche Üben, angefüllt mit vielen praktischen „Erfahrungsgelegenheiten“. Natürlich offenbaren die Probleme, mit denen Musiker*innen sich herumschlagen, dieselben Herausforderungen, mit denen sich Instrumentalpädagog*innen täglich konfrontiert sehen. In diesem Sinne beinhaltet mein Buch auch viele wertvolle Hinweise für das Unterrichten.
nmz: Was war der Anlass, das Buch zu schreiben?
Stockmann: Meiner Erfahrung nach sind die Lösungen für viele Spiel-, Atem- und Stimmprobleme nicht auf der Oberfläche der Instrumental- oder Stimmtechnik zu finden, sondern sehr elementarer Natur. Davon handelt mein Buch. Ich bin davon überzeugt, dass Musiker*innen und besonders auch Unterrichtende mehr Bewusstsein für die physiologischen, mentalen und emotionalen Zusammenhänge des Musizierens haben sollten. Im Laufe meiner langjährigen Praxis entstand der Gedanke, meine Erfahrungen verfügbar zu machen, indem ich sie aufschreibe. Dies betrifft nicht zuletzt den zweiten Teil des Buches, der Anregungen gibt für Musiker*innen, die an einer Fokalen Dystonie erkrankt sind. Bisher gibt es wenig Literatur über entsprechende Therapieverfahren, die sogenannten Retrainings. Dieser Berufskrankheit haftet noch immer der Schrecken des Unheilbaren an. Ich will aufzeigen, wie man aus dieser Erkrankung herauswachsen kann – und vor allem: Welche Prinzipien Musiker*innen befolgen sollten, um erst gar nicht zu erkranken.
nmz: Sie beschreiben in Ihrem Buch das Üben als einen prozesshaften Weg. Können Sie ein Beispiel aus der Praxis geben, welche Veränderungen durch ein so gestaltetes Üben angestoßen werden können?
Stockmann: Gerade heute stellte sich ein junger Bratschist in meiner Praxis vor, der dabei ist, sich auf Probespiele vorzubereiten. Er empfindet einen Konflikt zwischen dem „wie ich spielen soll, um eine Stelle zu gewinnen“ und dem Bedürfnis, „mir selbst treu zu bleiben“. Als er mir das Hofmeister-Konzert vorspielt, ist seine Haltung instabil, sein Spiel wirkt fahrig. Ich spüre sein Bemühen, viel zu „machen“, um zu überzeugen. Er erzählt, dass er immer lange braucht, bis er sich beim Spielen frei fühlt und dass er besonders im Probespiel seinen Bogen „nicht unter Kontrolle“ hat. Genau da liegt das Problem: Er versucht, ihn unter Kontrolle zu haben, indem er seinen Bogen festhält, statt ihn in der Saite ruhen zu lassen. Aber warum tut er das? Wo liegt der Zusammenhang zwischen seinem Umgang mit dem Bogen und den anderen genannten Schwierigkeiten? Wo ist der Ursprung?
Gerrit Onne van de Klashorst, der Begründer der Dispokinesis, pflegte zu sagen: „Haltung kommt vor Bewegung“ und „Haltung und Bewegung sind Ausdruck“. Um diese Qualitäten erfahrbar zu machen, erfand er Übungen ohne Instrument, die so genannten „Originals“. In meinem Buch stelle ich eine Auswahl vor. Als wir damit an die Arbeit gehen, stellt der Bratschist fest, dass er seinen Mangel an stabilem Bodenkontakt aus den Füßen im Oberkörper kompensiert. Wenn es ihm aber gelingt, einen stabilen Standpunkt einzunehmen, erfährt er seine Bewegungen als leicht und frei. Die Konzentration auf den Boden unter seinen Füßen bringt ihn außerdem mit sich selbst in Kontakt. Er kommt zur Ruhe. Und damit ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass er das kompensierende Festhalten am Bogen aufgeben kann, weil im Oberkörper keine Haltearbeit mehr nötig ist.
Ohne das Zurückfinden zu dieser Basis wird seine Entwicklung stagnieren. Denn sein enormes Potential kann er trotzdem nicht verbergen. Aber er verfügt nicht darüber, weil er sich noch nicht erlauben kann, Präsenz zu zeigen und einen für ihn angemessenen Raum einzunehmen. Wir üben nicht Stücke – wir üben uns selbst! Das ist der eigentliche Prozess.
nmz: Das Buch enthält viele praktische Anregungen für das eigene Üben. Wie sollten die Leser*innen am besten vorgehen, wenn sie sich auf den von Ihnen beschriebenen Selbsterfahrungsweg machen?
Stockmann: Am besten das Buch erst einmal durchlesen. Sie werden immer wieder etwas finden, was für ihr Instrument relevant ist. Statt alle Instrumente einzeln durchzugehen, habe ich mich entschieden, Prinzipien herauszuarbeiten, die dann beispielhaft auf verschiedene Instrumente übertragen werden. Wenn ich mir einen Überblick verschafft habe, kann ich gezielt immer wieder Stellen auswählen, die für mich interessant sind. Es ist ein Arbeitsbuch. Dabei können die fachfremden Erfahrungen manchmal ganz besonders gut den Blick schärfen für die Lösungen am eigenen Instrument: Zu erfahren, wie ein Hornist mit dem Gewicht seines Instruments umgehen kann – und was mir das sagt für die Geige…
nmz: Ihr Buch zeigt Wege auf, die das eigene Üben grundlegend verändern können und ganzheitliche Prozesse anstoßen, die natürlich Zeit brauchen. Gibt es auch „schnelle Tipps“?
Stockmann: Im Laufe der Zeit haben sich Statements etabliert, die Musikern eine einfache Orientierung geben können: Sie werden in meinem Buch „Pinnwandsätze“ genannt. Ich kann mich daran entlanghangeln, sie aber auch als Anregung verstehen, eigene Merksätze zu formulieren für etwas, das jetzt für mein Üben von Bedeutung ist.
nmz: Wenn die Leser*innen die Anregungen in deinem Buch beginnen umzusetzen – wie wird sich ihr Leben und Üben vermutlich verändern?
Stockmann: Sie sagen es: Nicht nur das Üben, sondern das Leben! Die Art und Weise, wie ich mit mir umgehe und wie ich über mich selbst denke. Es würde mich freuen, wenn die Leser*innen die Ermutigung mitnehmen, mehr auf ihr Gefühl zu hören und als Musiker*innen einen persönlichen Weg zu wagen – auch in der Vorbereitung auf die Bühne.
nmz: Sie haben den Vorgängen, die beim Lernen im Gehirn maßgeblich sind, ein eigenes Kapitel gewidmet. Warum sind Sie hier von dem roten Faden des eigenen Erlebens abgewichen, den Sie ansonsten konsequent verfolgen?
Stockmann: Musiker*innen sollten wissen, wie das Bewegungslernen im Gehirn geschieht. Ich erlebe immer wieder, dass es ihnen leichter fällt, das gewohnte Kontrollieren loszulassen, wenn sie den Fakten glauben dürfen, die belegen, wie kontraindiziert das eigentlich ist.
nmz: Wir alle wissen, wie wichtig der Anfangsunterricht für die spätere instrumentale und musikalische Entwicklung der Schüler*innen ist. Worauf sollte die Lehrkraft bei Anfängern achten, um späteren Fehlentwicklungen vorzubeugen?
Stockmann: Beim Anfangsunterricht sollte eine gute Basis für das Körpergefühl und eine langsame Entwicklung der Feinmotorik gelegt werden. Langsam, um das Kind motorisch nicht zu überfordern und keine künstlichen Muster zu erzeugen, die später seine Weiterentwicklung hemmen können. Dies spielt zum Beispiel beim Daumen eine große Rolle, der im frühen Kindesalter noch grobmotorisch agiert und Hilfe braucht, um mit der Zeit feinmotorischer zu werden.
Ich bin der Überzeugung, dass Lehrer*innen, die Anfangsunterricht geben, eine große Verantwortung haben und exzellent ausgebildet sein sollten. Es ist ein Fehldenken in unserer Kultur, dass das Konzertieren generell gegenüber dem Unterrichten höher bewertet wird.
nmz: Können Übungen aus Ihrem Buch in den Gruppenunterricht integriert werden?
Stockmann: In dem Maße, wie Musiker*innen und Pädagog*innen selbst ein müheloses Haltungs- und Spielgefühl am eigenen Leibe erfahren haben, werden sie automatisch Fantasie entwickeln, um beim Vermitteln von Bewegungsabläufen die Ursprünglichkeit der Kinder zu nutzen. Der dispokinetische Ansatz bedient sich gerne bildhafter Vorstellungen, um dem Betreffenden eine unwillkürlich stimmige Reaktion zu „entlocken“ (G. O. van de Klashorst).
nmz: Was ist Ihr wichtigstes Anliegen mit diesem Buch?
Stockmann: Üben kann eine Art Selbstgespräch sein, das meine Selbstkompetenz wachsen lässt. Nur so kann ich Gewissheiten finden, die mich auch auf der Bühne bestehen lassen. Dann bin ich frei, mich auszudrücken. Das ist ein zutiefst menschliches Anliegen – und gleichzeitig die Voraussetzung für wirkliche Kunst.
- Angelika Stockmann: Üben hilft eben doch! Ein Leitfaden zum lösungsorientierten Üben in Prävention und Therapie. Wißner-Verlag, Augsburg 2022. 268 S., 39,80 Euro, ISBN 978-3-95786-282-2