Wer am Bahnhof der sachsen-anhaltischen Kreisstadt Bernberg aussteigt, findet nicht einmal einen Stadtplan vor. Die Bahnhofstraße liegt verödet, jedes zweite Schaufenster ist leer. Die Fußgängerzone ist einigermaßen belebt an diesem Samstagnachmittag, doch schon am Schloss ist der Besucher aus dem Westen wieder das einzige Lebewesen – außer den Bären, die als lebendiges Wahrzeichen des Ortes dort oben gehalten werden. Unten an der Saalebrücke verfällt ganz offensichtlich jedes zweite Haus, und bei diesigem Himmel legt die Dämmerung einen Schleier der Melancholie über die halbverlassene Stadt.
Wer am Bahnhof der sachsen-anhaltischen Kreisstadt Bernberg aussteigt, findet nicht einmal einen Stadtplan vor. Die Bahnhofstraße liegt verödet, jedes zweite Schaufenster ist leer. Die Fußgängerzone ist einigermaßen belebt an diesem Samstagnachmittag, doch schon am Schloss ist der Besucher aus dem Westen wieder das einzige Lebewesen – außer den Bären, die als lebendiges Wahrzeichen des Ortes dort oben gehalten werden. Unten an der Saalebrücke verfällt ganz offensichtlich jedes zweite Haus, und bei diesigem Himmel legt die Dämmerung einen Schleier der Melancholie über die halbverlassene Stadt. Hier soll Theater möglich sein? Schmuck steht es ja da, das Carl-Maria-von-Weber-Theater, 1997 in renoviertem Zustand wiedereröffnet. „Rote Socken?“ heißt ganz aktuell das Stück von Michael Korth (Text) und Bodo Kommnick (Musik), das hier seine Uraufführung erlebt. „Rockoper“ nennt es sich, in Wirklichkeit ist es eine Musicalrevue nach dem Muster der legendären Linie 1. Gespielt wird es von der Anhaltischen Musiktheaterwerkstatt für Kinder und Jugendliche e.V.; die setzt sich zusammen aus Schülerinnen und Schülern der Musikschule in Bernburg, Dessau und Wittenberg sowie des Jugendtheaterclubs Wittenberg. Wenigstens ein Teil der Akteure stammt also aus der Stadt selbst, die bis 1993 noch ein eigenes Schauspielensemble hatte, auch wenn es 1988 mit dem damaligen Elbe-Elster-Theater Wittenberg fusioniert wurde.Die „Roten Socken?“ sind ein Nebenprodukt des Kurt-Weill-Festivals in Dessau, das sich beharrlich um den Bühnennachwuchs bemüht, diese Produktion allerdings ins entlegene Bernburg verschoben hat. Später, im Sommer erfährt man: Das Stück war dann auch in Wittenberg zu sehen, es wurde auch zu Gastspielen nach Magdeburg und Lüneburg eingeladen, doch nach Dessau kam es bislang nicht.
Dem aus dem Westen angereisten Betrachter erscheinen die „Roten Socken?“ eher harmlos. Hat nicht schon Leander Haußmann in seinem Film „Sonnenallee“ den ironischen Umgang mit der verschwundenen DDR gepflegt? Korths und Kommnicks Revue zeigt in durchaus klischeehafter Zuspitzung das Leben diesseits und jenseits der Mauer – als hätten DDR und BR vor 1989 sich gegenseitig karikiert. Wendelin heißt bezeichnenderweise der Held des Stückes: keine starke Figur, sondern ein sympathischer, etwas naiver junger Mann, dessen Freiheitsdurst ebenso ausgeprägt ist wie sein Leichtsinn.
Aus der SED-Diktatur flieht Wendelin über die ungarische Grenze in den Westen; seine schwangere Freundin bleibt allein. Er geht nach West-Berlin, wo er sich im Rotlicht-Milieu in dunkle, aber einträgliche Geschäfte verwickeln lässt. Sein Leichtsinn verleitet ihn zu einer Transitreise durch die DDR; er landet dort im Gefängnis, aus dem ihn dann der Fall der Mauer befreit. Bodo Kommnicks Musik, gespielt von der Band „Big-Tänzchentee“, wirkt teils recht hausbacken; teils gelingt es ihr durchaus, den Szenen ein charakterisches Profil zu geben. In jedem Fall war sie gut auf die Leistungsfähigkeit der jungen Darsteller zugeschnitten.
Vom Ruin alter Ideale
Ihre eigentliche Glaubwürdigkeit gewann die Inszenierung von Markus Schuliers durch das frische, spontan und unbefangen wirkende Spiel der jungen Darsteller. Weniger locker reagierten viele Erwachsene auf das Stück. Von heftigen Auseinandersetzungen während der Probenphase in den Familien einiger Mitwirkender wusste das Produktionsteam zu berichten. Die Zuschauerin, die im Gespräch nach der Premiere bekannte, es sei schmerzhaft für sie, auf der Bühne den Ruin alter Ideale zu sehen, an die sie einst selbst geglaubt habe, zeigte ungewöhnliche Offenheit. Kennzeichnend für die gesellschaftliche Atmosphäre sei eher das Beschweigen der eigenen Vergangenheit durch die Erwachsenen, weiß Andreas Altenhof zu berichten.
Altenhof, der in diesem Herbst seine achtjährige Aufbauarbeit als Geschäftsführer der Kurt-Weill-Gesellschaft in Dessau beendet, war einer der Gründer der Anhaltischen Musiktheaterwerkstatt. Seiner Überzeugung nach gewinnt die Theaterarbeit mit Jugendlichen gerade in Dessau und Umgebung ihre politische Bedeutung dadurch, dass sie dem deutlich zu beobachtenden Verlust an Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit in der Gesellschaft entgegenwirkt.
Bestätigt sehen kann er sich darin durch eine im Sommer bekannt gewordene Studie des Deutschen Jugendinstituts in München (laut Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 4.7.2001), nach der die Hilflosigkeit im Umgang mit den eigenen Emotionen eine wichtige Quelle von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt ist. Demokratiefähigkeit, so meint Altenhof, zeige sich gerade in der Fähigkeit, Widersprüche und Gegensätze auszuhalten.
Umso bedauerlicher erscheint vor diesem Hintergrund die ungewisse Zukunft der Anhaltischen Theaterwerkstatt e.V., die immerhin 1997 für die Aufführung von Giles Swaynes Oper „Le nozze di Cherubino“ einen Kulturpreis des Landes Sachsen-Anhalt erhielt.
Wie in vielen ostdeutschen Vereinen ist die Personaldecke so gering, dass mit dem Weggang von Aktiven gleich die Existenz des Vereins als solcher auf dem Spiel steht. Hinzu kommt, dass mit der drohenden Schließung des Mitteldeutschen Landestheaters in Wittenberg auch der dortige Jugendtheaterclub (mit seinen über 80 Mitgliedern) sterben dürfte. Die Wittenberger Vorgänge tragen deutliche Züge einer peinlichen Lokalposse. Träger des Mitteldeutschen Landestheaters ist der aus der Stadt und dem Kreis Wittenberg gebildete Zweckverband.
Dieser beschloss kurz vor der Sommerpause 2000 die Abwicklung des Ensembles, musste sich allerdings nachher belehren lassen, dass die vorgesehenen kurzfristigen Kündigungen arbeitsrechtlich nicht zulässig seien. Trotzdem gelang es, die Schauspielsparte zum Ende der Saison 2000/01 zu schließen. Zwei recht abenteuerliche Konzepte für ein „kleines Musiktheater“ (mit kleinem Ensemble, und ab September 2002 ohne eigenes Orchester) wurden inzwischen vom Land als nicht förderfähig erklärt, so dass der bislang gezahlte Landeszuschuss auf dem Spiel stand.
Kopfloses Theater
Die Mehrheit des Kreistages beschloss daraufhin am 25. Juni 2001 die Schließung des Mitteldeutschen Landestheaters aus finanziellen Gründen. Nachdem der Stadtrat – ebenfalls aus finanziellen Gründen – gegen die Schließung votiert hatte, verfehlte der Antrag des Kreises in der letzten Zweckverbandssitzung vom 30. August eine Mehrheit. Weder für den Betrieb, so muss man die unterschiedlichen Voten interpretieren, noch für die Schließung des Theaters ist Geld da. Von künstlerischen Fragen ist seit langem schon keine Rede mehr. Da man angesichts der vermeintlich bevorstehenden Schließung versäumt hatte, die Stelle des Intendanten auszuschreiben, steht das Theater seit dem 1. September 2001 nun auch ohne Leitung da.
„Das Mitteldeutsche Landestheater existiert noch – nicht, weil es vom Träger gewollt wäre, sondern weil man unfähig war, es arbeitsrechtlich ordnungsgemäß zu schließen“, resümiert Hartmut Gorgs, neben Verwaltungsdirektorin Sieglinde Schlüter und GMD Jörg Iwer Mitglied des dreiköpfigen Leitungsgremiums, bis zum 31. August 2001, die aktuelle Situation. „Wie den Kollegen zumute ist“, heißt es weiter, „lässt sich leicht nachvollziehen. Die Spielzeit 2002/3 muss noch finanziert werden – durch wen auch immer –, aber ob wir noch spielen, ist ungewiss.“ Besondere Erbitterung löste noch im Juni die Weigerung des Zweckverbandes aus, Leitung und Personalrat des Theaters vor dem Schließungsbeschluss anzuhören. Für einen Einwohnerantrag gegen diesen Beschluss fanden sich dann mitten im Sommer 13.000 Unterschriften.
Mittlerweile gibt es zwiespältige Nachrichten aus Wittenberg. Auf seiner Sitzung am 7. November 2001 hat der Zweckverband einen neuen Winkelzug unternommen und beschlossen, das Mitteldeutsche Landestheater nicht etwa zu schließen, sondern nur dessen Spielbetrieb zum 31. August 2002 einzustellen. Gekündigten Ensemble-Mitgliedern will man die Umschulung zum Musikklehrer anbieten.
Die könnten ihre Schüler dann in der Tat aus erster Hand darüber informieren, welchen hohen Stellenwert die Musik in Wittenberg genießt. Der funktionierende Jugendtheaterclub aber soll immerhin erhalten bleiben, und die bestandsgefährdete Anhaltische Theaterwerkstatt könnte dann in ihm aufgehen. Ob es ein Trost ist für das zunehmend verbitterte Wittenberger Ensemble, dass es somit weder künstlerisch noch pädagogisch, sondern vor allem an der Konzeptionslosigkeit von Provinzpolitikern gescheitert ist?