Wissen Sie, wie sich Bela Bartóks Stimme anhört? Suchen Sie für eine Radioproduktion, für eine Vorlesung oder zur Vorbereitung einer Unterrichtsstunde Ausschnitte aus Arnold Schönbergs Analyse seiner „Orchestervariation“ op. 31, gesendet im Weimarer Rundfunk? Wollen Sie nachhören, was in den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik von 1948 bis 2000 gespielt und diskutiert wurde? Brauchen Sie Informationen über die Schumann-Rezeption im Reichsrundfunk zwischen 1933 und 1945? Oder interessieren Sie sich für O-Töne von Axel Eggebrecht und vielen anderen Künstlern und Politikern aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus? Dann genügt derzeit noch ein Anruf beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt. Das DRA ist das mediale Gedächtnis Deutschlands: Seit sechs Jahrzehnten sammelt es Bild- und Tondokumente, von der Schellackplatte bis zur CD, von der Frühzeit des Rundfunks bis zur Dokumentation aktueller Fernseh- und Radioprogramme.
Das komplette Programmvermögen eines ganzen Staates, nämlich des DDR-Rundfunks, liegt am zweiten Standort des DRA, in Potsdam-Babelsberg. Dort wurden kürzlich in detektivischer Kleinarbeit die Macher der Semperoper Edition Volume 2 fündig und rekonstruierten eine CD-Aufnahme aus Radio-Livemitschnitten von Beethovens „Fidelio“ mit Elfride Trötschel als Marzelline, Christel Goltz als Leonore und Joseph Keilberth als Dirigent der Staatskapelle Dresden. Die Aufzeichnungen stammten aus dem Jahr 1948 und waren aus Anlass der Festaufführung zur Wiedereröffnung des Großen Hauses, des ehemaligen Dresdner Schauspielhauses, in verschiedenen Landessendern sowie in Österreich live ausgestrahlt worden (siehe auch Seite 9).
Derartige Produktionen sind zukünftig vielleicht gar nicht mehr möglich, denn die ARD will sparen: 15 Prozent lautet die selbstgestellte Einsparungsvorgabe der ARD an alle ihre Gemeinschaftseinrichtungen, nachdem die geräteabhängige Rundfunkgebühr ab 2013 durch eine Abgabe pro Haushalt und Betrieb ersetzt werden soll. Auf die Arbeit etwa der ARD-Filmeinkaufsorganisation, der Degeto, wirken sich 15 Prozent weniger problematisch aus als auf die der Redaktionen und Abteilungen mit kleineren Budgets, die sich aber um die „Hardcore“-Aufgabe des gebührenfinanzierten Rundfunks kümmern: um Information, Kultur und Bildung.
Für das Deutsche Rundfunkarchiv aber sind 15 Prozent Einsparungen geradezu bestandsgefährdend. Zwölf Millionen Euro muss die ARD derzeit für ihr „kulturelles Gedächtnis“ jährlich aufbringen, zu viel nach Meinung einer rundfunkeigenen Strukturkommission, die den ARD-Intendanten drei Optionen zur Wahl stellte: Erstens: Das DRA soll mit dem bisherigen Budget mehr Aufgaben übernehmen als bisher. Zweitens: Das DRA soll optimiert werden. Drittens: die Komplett-Abschaffung des Archivs beziehungsweise Überführung an einen anderen Träger. Am wahrscheinlichsten, aber auch am diffusesten ist die zweite Option, die von einer Auflösung der DRA-Stiftung, über Schließung des Frankfurter Standortes bis hin zu Personalabbau alles Mögliche einschließt. Eine Folge dieser Variante wäre sicher auch, dass die Dienstleistungs- und Erschließungsarbeit des Archivs in Frage gestellt wäre und bestenfalls noch Bestandsverwaltung geleistet würde.
Im Vorfeld einer Tendenzentscheidung hatte sich herauskristallisiert, dass die Abschaffungsbefürworter unter den Landesanstalten nur eine Stimme weniger besaßen als die „Optimierer“. Das lässt nichts Gutes hoffen für eine endgültige Entscheidung der Intendanten über das Schicksal des DRA im November. Der aktuelle Anlass zur Unruhe, die DRA-Problematik, bringt wieder in Erinnerung, unter welchen dramatischen Erosionserscheinungen die Kernaufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nämlich dessen Kulturauftrag, zu leiden hat.
In einem Interview mit dieser Zeitung, „Die Quote ist wie ein Gift, das immer stärker wirkt“ (10/2010), spricht der ehemalige Innenminister Gerhart R. Baum von „Selbstverstümmelungsversuchen“ und sagt weiter: „Rundfunk ist eine Veranstaltung für die Gesamt-Gesellschaft, aber eben nur dann, wenn Kultur,- Informations- und Bildungsauftrag ernst genommen werden. Das unterscheidet den öffentlichen Rundfunk von den Privaten, und wenn der Auftrag nicht mehr wahrgenommen wird, erledigt sich das sogenannte duale System.“
Die nächste Sparrunde 2016 werde vorbereitet, gab der scheidende Intendant des MDR, Udo Reiter, kürzlich bekannt. Er sehe den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor tiefgreifenden Veränderungen: Unter den heutigen technischen Bedingungen würde man die Anstalten der ARD wohl nicht wieder so gründen wie damals. Die klassische Aufteilung nach Hörfunk- und Fernsehdirektionen mache in Zeiten des Internets kaum mehr einen Sinn. Reiter spricht hier Klartext: Der Rundfunk muss trimedial werden, daran führt kein Weg vorbei.
Nur: damit begibt er sich in klassische Geschäftsfelder der Verlagswirtschaft. Nach der Einführung einer kostenlosen „Tagesschau-App“ für iPhones und TabletPCs etwa schlugen acht deutsche Zeitungsverlage, darunter Axel Springer, FAZ, WAZ, DuMont Schauberg und der Süddeutsche Verlag Alarm. Sie klagen jetzt gegen die ARD wegen unlauteren Wettbewerbs. Die Verlage, die derzeit im Printbereich um ihre Existenz kämpfen und das Geschäft im Internet suchen, sehen in den Online-Aktivitäten der gebührenfinanzierten Wettbewerber ARD und ZDF eine Marktverzerrung, die nicht im Einklang mit dem Rundfunkstaatsvertrag steht. Für einen gebührenfinanzierten trimedialen Sender gibt es deshalb zukünftig nur eine Existenzberechtigung: seinen Informations-, Kultur- und Bildungsauftrag. Und diesen kann er ohne „kulturelles Gedächtnis“ nicht erfüllen, soviel steht fest.