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Codes in analoger und digitaler Wirklichkeit

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Die Ausstellung „Open Codes. Leben in digitalen Welten“ im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe (ZKM)
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Die Kuratoren Peter Weibel, Lívia Nolasco-Rózsás, Yasemin Keskintepe und Blanca Giménez verfolgen mit einem besonderen Ausstellungsformat das Konzept eines bildungspolitischen Experiments: Das Museum als Ort der Bürgerinnenbildung. Zweihundert künstlerische und wissenschaftliche Exponate setzen dazu auf Interaktionen zwischen Betrachtern und Kunstwerk. Alles findet statt in einer sehr weiträumigen Atmosphäre aus Büro, Labor und Wohnzimmer, in der sich Workstations mit Sitzgelegenheiten und Ausstellungsobjekten abwechseln. Dazu gibt es kostenlose Snacks und Getränke. Und wer zwischendurch eine Denkpause benötigt, kann sich beim Tischtennis verausgaben.

Im Sinne eines allgemein bildenden Auftrags wird in dem kostenlosen Programmheft zur Ausstellung über den Werkkatalog hinaus ein umfangreicher Überblick wichtiger Pionierarbeiten des Themenfeldes „Code“ gegeben. Über Galileis Mathematisierung der Physik, Leibniz‘ binäres Zahlensystem bis hin zu Booles Definition der Gesetze des Denkens als algebraische Mathematik, Turings Rechenmodell theoretischer Informatik und Zuses mechanischen Rechenmaschinen als Vorläufer heutiger Computer.  

Die Ausstellung soll dafür sensibilisieren, in welchen Formen uns Codes als Teil analoger und digitaler Kulturtechniken begegnen. Dazu wurden die Arbeiten der Ausstellung in acht Themenbereiche gegliedert: #GenealogieDesCodes, #Codierung, #MaschinellesLernen, #AlgorithmicGovernance, #AlgorithmischeÖkonomie, #VirtuelleRealität, #Arbeit&Produktion und #GenetischerCode.

Jede Form von Kommunikation beruht auf dem Verfassen und Dechiffrieren von Codes. Alphabete und Zahlensysteme sind älteste Mittel dafür. Heutzutage haben numerische Codes den fast größten Stellenwert. Wir übersetzen zum Beispiel Wörter, Töne und Fotos in Zahlen um sie im immateriellen Raum der Virtualität abzubilden. Der als Realität abgesteckte Bereich wird so als virtuelle Welt reproduziert. Kryptowährungen verlagern Geldtransfer-Prozesse ins Virtuelle. Chirurgische Eingriffe werden an virtuellen Reproduktionen des menschlichen Körpers simuliert. Und der real existierende Mensch wird selbst zum Medium, auf dessen DNA-Molekülen Daten als Code gespeichert werden können. Damit findet eine zunehmende Verschmelzung von Realität und Virtualität, Mensch und Technologie statt. Um diese Entwicklung weiter ausbauen zu können, wird unsere materielle Identität als Big Data analysiert und verarbeitet. Dies sind nur einige der Kulturphänomene, die in der Ausstellung Open Codes reflektiert werden.

Ein Schreibroboter verfasst in Massenproduktion Manifeste, in denen er beispielsweise die Ungerechtigkeit von Gerechtigkeit postuliert oder auch Irrtum und Wirklichkeit unter den besonderen Schutz staatlicher Gewalt stellt. Die Ausdeutung dessen entsteht im De-Codierungsprozess der menschlichen Wahrnehmung. Ein gehackter Tischrechner, der in einen Bitcoin-Miner umgewandelt wurde, produziert Papierschlangenberge, als Referenz auf real existierende Serverfarmen. Und im Licht eines morsenden Kronleuchters wachsen Klassiker der Elektroakustischen Musik als 3D-Hüllkurven aus dem Boden. Darüber hinaus gibt es Computerstationen, an denen Grundlagen digitaler Klangproduktion erläutert werden. Ein sogenannter MarkowKetten Explorer veranschaulicht, wie durch stochastische Prozesse musikalisches Material unendlich oft variiert werden kann.

Digitalisierung von Lebenswirklichkeiten und die Mutation der Realität zu etwas mathematisch Repräsentierbarem sind Themen, welche längst auch in die Neue Musik Eingang gefunden haben. Wer sich kompositorisch damit auseinandersetzt, findet hier wertvolle Anregungen, denn das Thema ist noch längst nicht in all seinen Facetten durchleuchtet und ein musikalischer Umgang damit setzt den Diskurs mit unterschiedlichen Positionen aus Wissenschaft, bildender Kunst und Medienkunst unbedingt voraus.  
Einzelbereiche der Ausstellung setzen einen unterschiedlich hohen Grad an Vorbildung voraus. Dennoch ist es gelungen, einen großen Rundumschlag zum Thema Codes und Digitalisierung zu gestalten, bei dem unterschiedlichste Rezipientengruppen individuell wichtige Impulse bekommen. Es empfiehlt sich, eine Führung zu buchen, denn die Fülle an Exponaten führt leicht zu anfänglicher Überforderung. Die Ausstellung Open Codes. Leben in digitalen Welten ist kostenlos und läuft noch bis zum 5. August 2018.

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