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Über die Pariser Oper wurde hierzulande früher gern gespottet. Die häufigste Vorstellung trage den Titel Relâche, so amüsierte man sich, was soviel wie Schließtag bedeutet. Seit dem Amtsantritt Hugues Galls an der Pariser Nationaloper hat sich die Schlamperei grundlegend geändert, zum heimlichen Bedauern mancher Besucher. Wenn sie einst zu einer Premiere in Bastille oder Palais Garnier eilten und unversehens verschlossene Türen wegen irgendeines Streiks vorfanden, reagierten sie keinesfalls empört, sondern eher erleichtert: Kam man doch auf diese Weise rascher ins geliebte Restaurant zum Diner.
Von einer derartigen Gelassenheit des Lebensstils ist man im preußischen Berlin natürlich weit entfernt. Es geht bei uns immer „ums Ganze“, und wer das nicht respektiert, sägt am Ast, auf dem alles, auch der „Säger“ sitzt. Aktueller Anlass der Berliner Querelen ist der mit Heftigkeit ausgebrochene Konflikt an der Deutschen Oper Berlin. Die Hauptrollen in dem Streit-Stück spielen das Orchester der Oper, der Berliner Senat, der Berufsverband der Deutschen Orchester (DOV) und, mit Auftritt aus der Seitenbühne, die Opernintendanz, die den Namen Götz Friedrich trägt. Der Streitgegenstand trägt wiederum einen einfachen Namen: Geld. Seit 1984 erhält das Orchester der Deutschen Oper eine sogenannte Medienpauschale (wie andere Orchester auch), mit der eigentlich aus Extra-Auftritten erwachsene Medienansprüche pauschal abgegolten werden sollen. Doch in Wirklichkeit handelt es sich bei diesen Pauschalen um verdeckte Gehaltserhöhungen, die aus taktischer Scham nicht so bezeichnet werden. Im Fall des Orchesters der Deutschen Oper diente die „Medienpauschale“ zur tariflichen Gleichstellung der Opernmusiker mit den Musikern des Berliner Philharmonischen Orchesters und des Bayerischen Staatsorchesters. Derartige finanzielle Egalisierungen werden gern künstlerisch begründet: Nur bei ökonomischer Chancengleichheit lassen sich für ein Orchester Spitzenmusiker verpflichten. Auch der begnadetste Geiger geht nach Geld.
Als die Deutsche Oper in der vorigen Saison ihre hohe Schuldenlast offenbaren musste, einigten sich Orchester und Opernleitung auf eine Halbierung der Medienzulage, also von rund 800 Mark auf die Hälfte für 1999. Jetzt sollten die Musiker auch noch die andere Hälfte „opfern“ und das brachte wohl das Fass zum Überlaufen: taktisch beraten und mental gestärkt von der mächtigen Orchestergewerkschaft traten die Musiker – nein: nicht in den Streik, denn das dürfen verbeamtete Musiker nicht – die Flucht in den Krankenstand an. Die Premiere von Schönbergs „Moses und Aron“, ohnehin mit vielen Aushilfen bestückt, konnte nur durch das Einfliegen ausländischer Instrumentalisten gerettet und mit vierzigminütiger Verspätung begonnen werden. Für die folgenden Vorstellungen weigerten sich auch die „Ausländer“, sich dem „Mobbing“ im Orchestergraben weiterhin auszusetzen. „Moses und Aron“ an der Deutschen Oper, aufwendig und mit großem Engagement einstudiert, wird wohl ein Solitär, was die Vorstellungszahl anbelangt, bleiben.
Was soll der Außenstehende zu allem sagen, was darüber denken? Zumal nicht einmal Einverständnis über die Sprachregelung für die Zulage besteht. Der Senat will die „Medienpauschale“ streichen, die Orchestermusiker erklärten sich, wie schon im Vorjahr, bereit, sich vom dreizehnten Monatsgehalt etwa 6.000 Mark abziehen zu lassen, was in etwa der Hälfte der Medienpauschale entsprechen würde. Das Orchester erwartet für dieses „Opfer“ aber eine zeitliche Begrenzung bis zum Jahre 2002 – ein durchaus verständliches und berechtigtes Verlangen: weiß man doch seit Brünings Zeiten, dass in Notzeit verordnete Gehaltskürzungen auch bei Besserung der Lage nie mehr rückgängig gemacht werden. Das Beharren des Senats (und der Hausverwaltung der Oper) auf der „Medienpauschale“ ist verständlich, weil man wohl glaubt, diese Zusatzleistung eher wegfallen lassen zu können, einfacher auf jeden Fall als ein freiwilliger und vorübergehender Gehaltsverzicht.
Der Konflikt an der Deutschen Oper, der seine Ursache auch in einer verbrauchten Führung des Hauses haben dürfte, die nicht mehr in der Lage ist, sich anbahnende Entwicklungen konstruktiv korrigierend zu lenken, wird kontrapunktiert durch die Zuspitzungen bei den anderen Berliner Sinfonieorchestern, vor allem den in der „Rundfunkorchester und chöre GmbH“ (ROC) vereinigten Ensembles unter der Intendanz Dieter Rexroths. Gerade hat der Dirigent Rafael Frühbeck de Burgos, nachdem er mit drei weiteren der insgesamt fünf in der ROC vertretenen Ensembles den Intendanten zum Rücktritt aufgefordert hatte, seinen eigenen Vertrag als Chefdirigent des Radiosinfonieorchesters Berlin (RSB) vorzeitig zum Oktober 2000 zur Disposition gestellt.
Anlass waren angeblich geplante drastische Kürzungen des Orchesteretats. „Mit dem Intendanten spreche ich nicht mehr, das ist mir zu blöd“, das soll Frühbeck de Burgos’ Kommentar zur Lage gewesen sein. Für Rexroth ist die Situation sicher heikel. Einerseits darf er sich freuen, mit Kent Nagano einen internationalen Spitzendirigenten für das Deutsche Symphonie Orchester (DSB), das ehemalige Rias-Symphonieorchester Ferenc Fricsays, gewonnen zu haben, doch Nagano stellt für seine Arbeit Bedingungen, die Geld kosten, und der gesamte Etat der Orchester-Chöre-GmbH (rund 56 Millionen Mark) lässt solche Sprünge nur durch Beschneidungen der anderen Mitglieder zu.
Womit man vielleicht beim zentralen Problem der gesamten Berliner Opern-und Konzertszene wäre: dem fehlenden „Kopf“, der, ausgestattet mit Fachwissen, das über die Grenzen der Berliner Republik hinausreichte und mit politischer Kompetenz die Dinge zu richten verstünde. Das kann eigentlich nur der Kultursenator sein, ein Politiker, der nicht Radunski heißt, der glücklicherweise das Feld räumt, sondern ein Mann mit Bildung, Augenmaß, Durchsetzungsvermögen, politischem Fundament und der nötigen Sensibilität im Umgang mit den Künsten und deren Protagonisten. Dass nach zehn Jahren Wiedervereinigung die quantitative Vermehrung künstlerischer Institute durch die Trennung der Stadt in Ost und West immer noch zu Rangeleien vor allem um den Finanztopf führen, ist nur Zeichen eines fortwährenden Missmanagements. Dass die Probleme der Deutschen Oper auch und besonders die Folgen einer bequemlichen Prolongierung der Intendantenbesetzung mit Götz Friedrich sind, darf ebenso diesem kulturpolitischen Missmanagement zugeschlagen werden. Ob es wünschenswert wäre, die „Aera“ Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden zu verlängern, bleibe dahingestellt. Vieles spräche gegen eine Verlängerung.
Die Berliner Philharmoniker haben sich mit Simon Rattle neben einem guten Dirigenten (dessen Entwicklung noch längst nicht ausgereizt ist) auch ein Stück Zukunft engagiert, einen phantasievollen, unternehmungsfreudigen Musiker mit Blick nach vorn, der aber auch weiß, daß vor Mozart und Haydn gute Musik komponiert worden ist. Für Berlin, dessen Musikbewusstsein schließlich eher konservativ zu nennen ist, bedeutet Rattle ebenso einen Glücksfall wie Nagano für das DSO (wer ersetzt diesen fürchterlichen, fast gleichförmigen Abkürzungssalat für die Berliner Orchesterlandschaft einmal durch griffige, phantasievolle und klar unterscheidbare Namen?) und die Berliner Konzertsituation. Nagano hat als Opernchefdirigent in Lyon ein Jahrzehnt für Furore gesorgt, das Hallé-Orchestra hat unter ihm hohes Niveau gewonnen, in Salzburg gewann er sogar die Wiener Philharmoniker mit ausgefallenen Projekten für sich. Rattle, Nagano und der umtriebige Udo Zimmermann als Götz-Friedrich-Nachfolger an der Deutschen Oper, der schon Gespräche auch mit Nagano über Opernprojekte geführt hat – das sind immerhin schon einige Namen, die für das Berliner Musik- und Opernleben Zukunft verheißen.
Und auch für die Lindenoper böten sich im internationalen Umfeld junge, unverbrauchte Persönlichkeiten an: Christian Schirm leitet seit Jahren als rechte Hand Hugues Galls selbständig das Palais Garnier mit glänzenden Ergebnissen, Laurens Langevoord machte aus der Niederländischen Reiseoper ein spannendes Musiktheater, Bernd Loebe wirkt als künstlerischer Direktor mit weltweiten Verbindungen zu Sängern, Regisseuren und Dirigenten entscheidend am unverändert hochstehenden Niveau der Brüsseler Oper unter der Intendanz Bernard Fouccrulles mit. Nur wer wagt, gewinnt.