Der Spott von Richard Strauss „Eine Berockte und 100 Mann zum Unisono bringen – das wär’ a Gaudi“ ist ein Museumsstück. Doch ähnliche Urteile folgten bis in jüngere Jahre: 2012 ließ Yuri Temirkanow im gedruckten Interview auf die Frage nach weiblichen Vorzügen stehen: „Schwäche… Entscheidend ist, dass eine Frau schön, liebenswürdig und attraktiv sein sollte, und dann schauen die Musiker nach ihr und werden von der Musik abgelenkt.“ Der russische Dirigent Vasily Petrenko führte 2013 gegen Kolleginnen ins Feld: „Die sexuelle Energie von Dirigentinnen kann ein Orchester verstören.“ Erfreulicherweise hat sich einiges geändert, auch wenn bis vor zwei Jahren der Fraunanteil in Orches-terdirigat-Studiengängen bei 37 Prozent lag, gibt es an deutschen Opern derzeit kaum weibliche GMDs. Nun also „Momentum“, ein TV-gerecht-langer Porträt-Film über die 38-jährige Erfolgsfrau Joana Mallwitz auf dem Podium und privat. Nach Hollywood-Star Cate Blanchett als Dirigentin „Tar“ wären äußerlich naheliegende „blonde“, aber eben showy inszenierte Parallelen zu befürchten.

Kleine statt großer Geste: Joana Mallwitz. Foto: déjà-vu film
Feuer und Sensibilität
Stattdessen der Haupteindruck: Ein ehrlicher Film. Gleich anfangs kommt das Mallwitz-Bekenntnis, dass sie bis vor kurzem „Angst vor vielen Leuten und großen Räumen“ hatte. Offen spricht sie aus, dass die „Aufregung immer die gleiche ist“ – und lässt sich mehrfach beim Gegenmittel filmen: Atemübungen vor der Tür zum Auftritt. Klar wird dann auch viel Realität einer Dirigentin: In der Ausbildung schon mal die Warnung angesichts ihrer Sensibilität; zentral sichtbar die Doppelbelastung mit dem kleinen Sohn und dem von der Agentin vertretenen „unregelmäßigen Kalender“; Mallwitz setzt nur den gesetzlichen Mutterschutz aus, Tenor-Ehemann Simon Bode ist eine Stütze, auch die Eltern – eben: „Man braucht ein Team“; der gehetzte Aufbruch zum Interview – und beim dazwischengeschobenen Telefon-Interview schnauzt sie das Handy an: „Nun ruf schon an!“.
In locker gereihten musikalischen, kurzen, aber oft expressiven Ausschnitten folgen Stationen der Entwicklung und Karriere. Da sitzt 1989 die dreijährige Joana neben der Mutter am Klavier und spielt nach dem Gehör kleine Melodien. Beide Akademiker-Eltern erkennen die Begabung und bringen den Teenager in die Frühförderung. Dann Joanas Begegnung mit Schuberts „Unvollendeter“: Diese Musik, die „wie aus dem Jenseits klingt“, wollte sie unbedingt dirigieren.
Unausgesprochen, aber aus den Stationen deutlich: Sie fiel nicht als Star in den medialen Hype – vielmehr bodenständige Praxis ab 2006 als Solorepetitorin in Heidelberg, dann Zweite Kapellmeisterin, erste Dirigierverpflichtungen und Premieren, 2014 Berufung zur jüngsten Generalmusikdirektorin in Erfurt, vier Verpflichtungen am „Opernhaus Nr. 1“ in Frankfurt, 2018 dann „Generalin“ am Staatstheater Nürnberg – und in all diesen Jahren schon Gastkonzerte in Europa, ganze Opernproduktionen zwischen Zürich und Kopenhagen, Amsterdam und Riga, schließlich Salzburger Festspiele. Mallwitz hat da mit ersten Regisseuren wie Christof Loy oder Claus Guth arbeiten dürfen – doch zu „Musik und Szene“ sagte sie leider nichts. Kurz erkennbar wird ihre verbale Begabung in kleinen Werk-Kommentaren zu Konzertbeginn und in „Gesprächskonzerten“. Sie gründet in Nürnberg ein Jugendorchester und ihr musikalischer Abschied findet open air vor 65.000 Parkbesuchern statt. Ihre herausragende Begabung gipfelt schließlich im schicken Plakat-Konterfei und Slogan „Gänsehaut kennt keine Grenzen“: Seit 2023 ist Joana Mallwitz als erste Frau Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin.
Sachlich ruhig kommentiert sie die wiederholt gestellte Frage nach „Frau auf dem Pult“ mit „Wir sind noch nicht da, dass man über die Sache, die Musik spricht“ – und als sie nach der Kita-Situation gefragt wird, will sie auch mal nicht antworten; Dirigenten-Väter werden so etwas nämlich nicht gefragt.
Dafür kommen von ihr Sätze wie „Suchen ist etwas Echtes“, die Freude, nicht „Nischiges“ dirigieren zu müssen, auch das Bedauern, „keine Zeit für Vor- und Nachfreude“ zu haben. Das Berliner Eröffnungskonzert mit Mahlers 1. Symphonie „Der Titan“ endet im Triumph – und als ihr Mann sie abseits des Premierentrubels umarmt und gesteht, dass ihm am Ende die Tränen gekommen seien, fragt sie „Obwohl die 1. Violinen nicht zusammen waren?“ Also viel Ehrliches und eben auch Mitreißendes in aller Mallwitz-dirigierten Musik des Films.
- Momentum – Joana Mallwitz. Film von Günter Atteln. 2024. 88 Min. déjà-vu film UG Hamburg (Filmpremiere am 5. Mai, DOC.fest München, danach in Kinos bundesweit)
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