Vor 100 Jahren: Ein Notschrei +++ Vor 50 Jahren: Eine „unmusikalische“ Notiz +++
Vor 100 Jahren
Ein Notschrei
Sehr geehrter Herr Schriftleiter! Ein Schulmeister bittet, fleht und klagt! Er bedarf der Hilfe und Unterstützung weitester musikalischer Kreise; denn das, was ihn bewegt, ist so wesentlich und wichtig, daß keine Zeit mehr versäumt werden darf, soll es nicht zu spät werden. An alle Gesangsvereine und -Korporationen, an alle ausübenden und literarisch tätigen Musiker, an alle Fach- und Volks- sowie Mittelschullehrer möchte ich mich wenden, daß sie in ihren Kreisen, bei Behörden und maßgebenden Persönlichkeiten einmal ganz energisch die Forderung stellen, begründen und durchzudrücken versuchen: Wir verlangen für die Bildung des Volkes die musikalische Grundlage in der Schule. Es wird mir entgegengehalten werden: dieser Satz steht ja schon in den Lehrplänen. Es ist ein glatter Schwindel, wenn man verlangt, daß mit einer Stunde Unterricht die Grundlage für irgend eine Bildung gelegt werden soll. […] Eine einfache Ueberlegung wird beweisen, wie unrecht man dem Kinde und der musikalischen Erziehung tut. Bei ihr benötigt man als wesentliches Organ das Ohr. […] Will man von musikalischer Erziehung, insonderheit von Gesang sprechen, so muß man den Gehörnerv systematisch durch viele Uebungen wecken, erziehen, reizbarer machen. Uebungen erfordern Zeit. […]
Aber warum ertönt der Notschrei, der Hilferuf gerade jetzt? Weil jetzt die Zeit, die höchste Zeit ist. […] Die Lehrpläne aller Schulgattungen werden einer eingehenden Durchsicht unterzogen. Da gibt es manche Aenderungen. Gelingt es jetzt nicht, daß man dem Gesange drei Wochenstunden […] obligatorisch einräumt, dann ist’s vorbei, vielleicht auf Jahrzehnte. Turnen und Zeichnen kamen uns voraus. Möchten alle, die es angeht, dahin wirken, daß Gesang dahin kommt, wo sein Platz ist – weit vor jene technischen Fächer, weil er nach der ästhetischen, gesundheitlichen und sozialpädagogischen Seite hin ganz andere Qualitäten besitzt als jene Disziplinen. […]
Joseph Schubert, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 11
Vor 50 Jahren
Eine „unmusikalische“ Notiz
Aus Amerika kommt die Nachricht, daß Frank Zappa, der Chef der „Mothers of Invention“ – auch die Zersäger der amerikanischen Gesellschaft genannt – zusammen mit Herb Cohen eine eigene Schallplattenfirma gegründet hat, die – und das ist wichtig – auch einen eigenen unabhängigen Schallplattenvertrieb besitzt. Damit ist die vollständige Unabhängigkeit der „Mütter der Erfindung“ gewährleistet, denn bislang hatten Zappa und Co. nur die Leitung einer Plattenproduktion unter sich, der „Bizarre“-Records, deren Produkte aber über andere Firmen vertrieben wurden. Frank Zappa selbst und auch die anderen Bands, die bei Bizarre unter Vertrag sind, z. B. die Fugs, die MC 5 und die Psychedelic Stooges, hatten wegen ihrer politischen Ansichten und auch wegen ihrer Ansichten über ihre persönlichen Freiheiten oft Schwierigkeiten mit den „großen Bossen“ in den Büros der mächtigen Plattenkonzerne. Deshalb konnten die „Mothers of Invention“ oft nicht alles auf Platte pressen, was sie gerne darauf gepreßt hätten. Damit ist es jetzt vorbei: Frank Zappa und Co. bestimmen selbst, was gepreßt und vertrieben wird. Und da die „Mothers of Invention“ stets ein hohes Maß an scharfer Sozialkritik mit in ihre Songs hineinschießen, ist zu erwarten, daß sie ihre neue Selbständigkeit noch weiter in diesem Sinne nützen werden. Das bedeutet mehr Information und Aufklärung für eine Menge junger Leute, denn die Schallplatte ist noch immer das größte Massenmedium, das die Jugend zur Zeit wenigstens zum Teil – auf der „künstlerischen“ Seite – besitzt und das es – siehe Beispiel „Mothers of Invention“ – auch vollständig besitzen kann.
Raoul Hoffmann, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 3 (Juni/Juli)