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Patrick Hahn. Foto: Holger Talinski/WDR

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„Was wird die neue Musik?“

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Der WDR-Redakteur für neue Musik Patrick Hahn im Gespräch mit Rainer Nonnenmann
Vorspann / Teaser

Mit der Pensionierung von Harry Vogt 2022 endete eine über drei Jahrzehnte lange künstlerische Leitung der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ und der „Wittener Tage für neue Kammermusik“ (vgl. Interview in der Ausgabe 12/2021). Jetzt steht ein Nachfolger in der Verantwortung, der kein Unbekannter ist: Patrick Hahn, geboren in Zürich. Studierte Musikwissenschaften, Philosophie, Deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Von 2004 bis 2011 Mitarbeiter des WDR bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik sowie den Konzertreihen Musik der Zeit und ensembl[:E:]uropa. Tätigkeit als Autor und Moderator unter anderem für WDR 3, neue musikzeitung, das Beethoven-Haus Bonn und das Goethe-Institut. Gemeinsam mit Moritz Eggert und Arno Lücker gründete er 2009 den ersten kritischen Weblog für zeitgenössische Musik, den „Bad Blog of Musick“. Zwischen 2011 und 2015 war Patrick Hahn Dramaturg an der Oper Stuttgart, seit 2015 prägte er als Künstlerischer Programmplaner das innovative Profil des Gürzenich-Orchester Köln mit.

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neue musikzeitung: Was erbst Du von Deinem Vorgänger?

Patrick Hahn: Große Fußstapfen! Ich habe zwar nicht so große Füße, kann aber schnell laufen und tanzen. Ich verdanke Harry Vogt viel, der mich schon während meines Studiums mit Recherchen und Produktionsbegleitungen engagiert hat. Ich habe damals Komponisten wie Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann kennen gelernt und erfahren, was es heißt, Musik von der ersten Idee bis zu Konzert und Radiosendung zu produzieren. Das hat mich fasziniert und dann auch dazu gebracht, vom Musikjournalismus auf die Produzentenseite zu wechseln.

nmz: Vogt präsentierte unter anderem zeitgenössische französische Musik. Welche Kontinuitäten und neuen Akzente wird es unter Deiner Redaktion geben?

Hahn: Der Philosoph Odo Marquard hat das Bonmot geprägt, „Zukunft braucht Herkunft“. In einem institutionellen Kontext ist es spannend, sich mit deren Geschichte zu beschäftigen. Das Sinfonieorchester des WDR und die Reihe „Musik der Zeit“ reichen zurück bis 1951 und zeichnen sich nach meiner Sicht durch vier Dinge aus: bedeutende Komponist*innen der Zeit nach Köln zu holen; scheinbar unmögliche Dinge zu stemmen, etwa die Uraufführungen von Schönbergs „Jakobsleiter“ oder Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“; nicht nur Konzerte zu veranstalten, sondern ganze Universen zu eröffnen, in die man eintauchen kann, wie etwa 1987 bei „John Cage – Nacht Tag“; schließlich neue Konzertformate unter Einbeziehung neuer Medien zu ermöglichen, wie das erste Lautsprecherkonzert mit Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ 1956.

nmz: In den 1950er-Jahren meinte „Musik der Zeit“ (MdZ) vor allem Uraufführungen der Avantgarde. Später gab es stilistische Erweiterungen, postmodernes „anything goes“, schließlich sogar Wiederaufführungen von Liszt, Debussy, Schönberg, Strawinsky. Was ist die Musik der 2020er-Jahre?

Hahn: Während ich vor zwölf Jahren eher der Meinung war zu wissen, was die neue Musik ist, bin ich heute offener geworden und stelle vielmehr neugierig die Frage: Was wird die neue Musik? Der Musikbegriff ist in starkem Wandel begriffen, und das zu begleiten, ist eine spannende Aufgabe. Ich finde es wichtig, sich auch die Ikonen der neuen Musik immer wieder vorzunehmen, wie neulich Stockhausens Kontrapunkte, dessen Uraufführung unter Scherchen an den Schwierigkeiten fast gescheitert ist. Heute wird das Stück wie Mozarts Serenaden serviert, und man spürt, dass etwas einst kaum Realisierbares und Rezipierbares zu einem Gegenstand der Darbietung und Betrachtung werden kann. Da ist Repertoirebildung wichtig. Ich stelle mir auch die Frage, ob Neue-Musik-Konzerte mit vier Uraufführungen noch zeitgemäß sind? Was ist heute ein zeitgenössisches Format für neue Musik? Ist es nicht auch spannend, Resonanzen zwischen Alt und Neu auszustellen, ohne die Ressourcen für jetzt lebende Komponistinnen zu verringern? Das ist die Quadratur des Kreises.

nmz: Das Machen des Einen geht immer zu Lasten des Anderen. Seit 2010 hast Du als Dramaturg für Oper und Konzert an der Staatsoper Stuttgart und seit 2015 als künstlerischer Programmplaner beim Gürzenich-Orches­ter Köln eher mit klassisch-romantischem Repertoire gearbeitet. Wie und wo orientierst Du Dich über das aktuelle Musikschaffen?

Hahn: Ich hatte auch in dieser Zeit einen intensiven Bezug zum zeitgenössischen Musikschaffen. Das Wichtigste ist, dass man viel unterwegs ist, sich viel anhört und anschaut. Mich begeistert, wie vielfältig das Feld neuer Musik ist, von der Performance im Leerstand bis zum großen Orchesterkonzert. Ich finde auch spannend, wie sich Genrebegriffe auflösen und verschiedene Traditionen in das Komponieren einfließen. Komponistinnen und Komponisten, die von sich sagen, ihre Welt sei die Elektronik, möchte ich auch für das Orchester interessieren, denn das ist immer noch der beste Synthesizer der Welt.

nmz: MdZ wird seit etlichen Jahren ausschließlich vom WDR-Sinfonieorchester bestritten. Gerade im Hinblick auf andere Formate sollten vielleicht auch wieder andere Ensembles auftreten, wie es früher regelmäßig der Fall war?

Hahn: Das ist eine Option. Auch meine Planungen sind momentan auf das Orchester fokussiert. Es ist ein riesen Pfund, sieben bis acht Wochen im Jahr mit diesem Orchester zu arbeiten, von dem ich sagen würde, es gehört zu den besten in Deutschland. Ich kann mir aber vorstellen, dass man ganze Programmtage gestaltet oder ein Orches­terkonzert anschließend noch in etwas anderes überführt. Dafür hatte ich bei der Planung der jetzigen Spielzeit zu wenig Vorlauf.

nmz: Bisher kamen Elektronik, Video, Licht, Intermediales und Szenisches bei MdZ eher selten bis gar nicht vor, weil dem Radio alles Visuelle als nachrangig gilt. Zugleich tut sich im Gebrauch digitaler Technologien sehr viel und generieren neue Medien auch neue Rezeptionsweisen.

Hahn: Ja, viele Komponisten denken heute nicht mehr in Tönen, sondern in Medien. Darin liegt auch für das Radio eine Chance, um das Medienhaus der Zukunft zu erfinden. Deswegen habe ich in meiner ersten Saison Simon Steen-Andersen eingeladen, sein neues Klavierkonzert „no Concerto“ zu realisieren, das in einer Zukunft spielt, in der die Menschen nicht mehr wissen, was Konzerte waren, und ein Wissenschaftler anhand eines Tonbands zu rekonstruieren versucht, was das für eine Kulturform war. Da werden wir im Sendesaal Videoleinwand, Lautsprecher und Licht nutzen. Bei einem Festival wie in Witten ist die Integration von Medien noch leichter möglich.

nmz: Welche Möglichkeiten der Publikumsansprache und Kommunikation siehst Du?

Hahn: Ich mache Programme neuer Musik für rund dreihunderttausend regelmäßige Hörerinnen und Hörer von WDR 3 in Nordrhein-Westfalen, die European Broadcasting Union und alle, die uns weltweit über das Internet empfangen. Ziel des WDR ist es, alle Menschen zu erreichen. Dazu muss man verschiedene Angebote machen. Um Publikum zu erreichen, muss man andere Wege finden als ein normaler Konzertveranstalter.

nmz: Kunst- und Kulturschaffende geraten immer mehr unter Rechtfertigungsdruck. Eingefordert wird „gesellschaftliche Relevanz“. Welchen Beitrag leistet neue Musik?

Hahn: Musik ist eine besondere Art und Weise, die Welt und unsere Position darin zu reflektieren und wieder darauf zurückzuwirken. Schon im künstlerischen Blick auf die Welt liegt ein Wert. Die Musikschaffenden sind so vielfältig wie die Welt, sie kommen aus der ganzen Welt mit ihren jeweiligen Hintergründen. Darin liegt die große Chance, in unserer postmigrantischen Gesellschaft auch marginalisierten Stimmen einen Raum zu geben. Das ist ein herausfordernder Brückenschlag, wenn man weiterhin mit Orchester oder klassischem Streichquartett arbeitet. Mit der neuen Musik können wir auch über Themen sprechen, die es erst heute gibt, etwa Transtraditionalität, Digitalität oder prekäre Verhältnisse, wie sie der Spätkapitalismus hervorgebracht hat.

nmz: Wie gehst Du mit diesen aktuellen Zeitfragen um? Willst Du eigens Themen setzen oder abbilden, wie sich Musikschaffende von sich aus damit auseinandersetzen?

Hahn: Wenn man mit den ganz großen Themen hantiert, kommt am Ende immer Glaube, Liebe, Hoffnung, Paradies und Hölle heraus. Man ist schlecht beraten, Komponisten mit Werken zu irgendwelchen Themen zu beauftragen. Ich versuche damit zu agieren, wie mit Magneten. Wenn man in Gesprächen mit Künstlern Themen erwähnt, entstehen Anziehungskräfte und im Ergebnis bestenfalls andere Perspektiven, die man sich als Kurator gar nicht vorstellen konnte. Die spannende Aufgabe bleibt dann immer noch, die entstandenen Stücke in Beziehung zu setzen und angemessen zu präsentieren.

nmz: Was wird sich bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik ändern?

Hahn: Ich erlebe in der Stadt Witten eine tolle Aufbruchsstimmung, die namentlich mit der neuen Leiterin des Kulturforums Witten Jasmin Vogel verbunden ist, die den Saalbau für mehr Veranstaltungen und Publikum zu öffnen versucht. Hier will ich gerne zusammenarbeiten. Die Stadt hat zum zweiten Mal vier „Fellowships für urbane Digitalkuktur“ ausgeschrieben. Kunstschaffende können ein Jahr lang in Witten leben und im dortigen Digitalstudio arbeiten und produzieren. Ich möchte auch weiter die Stadtgesellschaft erreichen und die besondere Geologie und Landschaft im Ruhrgebiet mit Hilfe von Musik erkunden.

nmz: Verfügst Du über die gleichen finanziellen und personellen Ressourcen wie Dein Vorgänger?

Hahn: Ja.

nmz: Gegenwärtig bangen dagegen manche Rundfunkredaktionen neuer Musik in der ARD um ihr Fortbestehen. Welchen Rückhalt hat die neue Musik im WDR?

Hahn: In meinem unmittelbaren hier­archischen Umfeld erlebe ich eine große Unterstützung für das, was wir tun, sonst hätte der WDR diese Stelle auch nicht nachbesetzt.

nmz: Nach den Plänen der ARD-Strukturreform sollen Kompetenzen zwischen den Sendeanstalten verteilt und soll nach 20 Uhr nur noch ein gemeinsames Radioprogramm ausgestrahlt werden. Wo bleibt bei diesem Reformprozess die Kompetenz der Fachredaktionen, die bisher nur hinter vorgehaltener Hand klagen?

Hahn: Innerhalb des Hauses erlebe ich als Redakteur eine große Freiheit innerhalb des gesetzten Rahmens und auch eine lebendige Diskussionskultur im Austausch über verschiedene Themen. Der beschriebene Reformprozess wird aber auf der Ebene der Intendanten erarbeitet, das liegt jenseits der Kompetenz der Fachredaktionen. Da diese Pläne noch nicht reif sind, kann ich sie auch nicht kommentieren.

Das Gespräch führte Rainer Nonnenmann

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