Mozarts Menschheitswerk „Don Giovanni“ ist offen für viele, auch tiefenpsychologische Deutungen. Das ist Gemeingut, und darauf haben sich die Autorin und Filmregisseurin Doris Dörrie und ihr Ausstatter Bernd Lepel an der Hamburger Staatsoper ihren eigenen Reim gemacht: Vieles, allzu vieles hatte Platz in ihrer Fassung, bis hin zu einer Verneigung vor Sigmund Freud persönlich.
Dörrie scheint klare Antworten zu lieben. Ob Don Giovanni eingangs bei Donna Anna Erfolg hat oder tatsächlich abblitzt, wie sie später Don Ottavio gegenüber behauptet, darum ranken sich seit Jahrhunderten die amüsantesten szenisch-musikalischen Spekulationen. Doch Dörrie lässt die beiden zu Leporellos Schimpfen „Non voglio più servir“ im Hintergrund fröhlich und offenkundig einvernehmlich vögeln.
Dass es ihr um starke Frauen ging und nicht um Opfer, hatte die feminismuserprobte Dörrie bereits im Vorfeld klargemacht. Deshalb gesellte sie dem Weiberheld Don Giovanni eine Verführerin der besonderen Art bei, nämlich den Tod höchstselbst, der ja im romanischen Sprachraum weiblich ist. Schon zur Ouvertüre holte sie den Tänzer Tadashi Endo als Skelett mit rosa Tüllhut und silbernem Abendkleid auf die Bühne.
Eine schlüssige Idee, die sich freilich gegen die folgende Bilderflut nicht behaupten konnte. Mexikanischer Totenkult und japanischer Butho-Tanz; Kleidung und Mobiliar im Stil voranschreitend vom 18. Jahrhundert über das fin de siècle bis zum postmodernen Selbstbedienungsladen samt Flachbildschirm und Gruftielook; mittendrin eine Riesenfigur, die von Niki de Saint-Phalle hätte sein können, aber noch viel quietschbunter war und ihr entblößtes Geschlecht den Zuschauern entgegenreckte; am Schluss gar ein Diner unterm Knochenlüster: Dörrie und Lepel haben kaum eine Assoziation ausgelassen, jedoch vor allem den Eindruck von Beliebigkeit erreicht.
Von Personenführung war wenig zu bemerken. Viele Ensembles absolvierten die Sänger brav nebeneinander stehend. Kaum dass in den grotesken Szenen, die doch die Allgegenwart des Todes erst richtig hervortreten lassen, einmal jemand gelacht hätte – nicht einmal in den doch so temporeich geschriebenen Rezitativen, die die Dirigentin Simone Young selbst am Hammerklavier begleitete. Masetto und Zerlina hatten ein Baby und Donna Anna und Ottavio einen Mops, und darin erschöpften sich die Regieeinfälle auch schon im Wesentlichen.
Frauen mögen stark sein. Stimmlich jedoch hatten in dieser Aufführung eher die Männer die Nase vorn. Wolfgang Kochs wohltönender Don Giovanni war kein Verführer, eher ein Brecher: Er kopulierte lieber mal eben links und rechts bei dem Fest am Ende des ersten Akts und erntete für sein Ständchen „Deh vieni alla finestra“ gar Szenen-Buhs. Wilhelm Schwinghammer füllte die szenisch dankbare Rolle des Leporello mit Spielwitz aus, ging aber öfters im Gesamtklang unter. Dovlet Nurgeldiyev gab den Don Ottavio mit lyrischem Schmelz. Elza van den Heever als Donna Anna blieb dagegen manche Farbe schuldig und klang in der Höhe belegt. Cristina Damian bewältigte die Partie der Donna Elvira ordentlich, aber ohne die Fallhöhe, die die Figur braucht.
Simone Young machte es den Sängern aber auch nicht leicht. Sie brachte den erzählerischen Gehalt der Musik nicht zum Leben, so akkurat und historisch informiert die Philharmoniker Hamburg auch spielten. Kein Übergang atmete; nichts blieb in der duftigen Schwebe, die Mozart so betörend komponiert hat – nicht einmal in Don Giovannis und Zerlinas Duett „Là ci darem la mano“. Wo die sich überlagernden Festmusiken oder Leporellos mal verzweifelte, mal wütende Einwürfe kaum zu hören sind, können Chaos und Groteske nicht hervortreten. Von Mozartscher Ambivalenz war die Hamburger Aufführung weit entfernt. So viele Antworten wollten wir gar nicht haben.