Vom 25. August bis 12. September fuhr der sounding D-Zug durch Deutschland: Drei Waggons (und eine Lokomotive), beladen mit Klanginstallationen und Werbematerial des Netzwerks Neue Musik und der Bundeskulturstiftung. An sechzehn Stationen machte er Halt, begleitet von allerlei musikalischen Aktionen. nmz-Media hat den Zug die ganze Zeit über begleitet. Patrick Hahn, Jörg Lichtinger und Martin Hufner haben „in Echtzeit“ über die Fahrt mit dem sounding D-Zug im sounding-D-Blog berichtet. Patrick Hahn sichtet seine Eindrücke und die seiner Kollegen noch einmal.
Rund 700 Jahre sind vergangen, seit in Paris, im Umfeld der Kathedrale Notre Dame, die Individualisierung der Stimmen einsetzte. Ars nova, Neue Kunst, wurde die neuartige Musik genannt, in der das Stimmengeflecht an Bedeutung gewann, die Polyphonie, das Mit- und Gegeneinander der Individuen, die sich bis dahin zum Lobe Gottes zu einer Stimme vereinigt hatten. Siebenhundert Jahre, in denen die Musik sich zunehmend befreit hatte, von äußeren Anlässen, in denen die Komponisten sich vom Rang der Köche - das war noch zu Mozarts Zeiten - zur Freiheit des Künstlers aufschwangen. Eine Zeitspanne, in der die Musik sich schließlich ihre eigenen Räume eroberte – Konzertsäle – und in den Häusern gepflegt wurde – Kammermusik und in dieser intensiven Auseinandersetzung an Raffinement gewann.
Etwa 700 Jahre später ist die Musik auf den Zug gekommen. In Auseinandersetzung mit den technischen und industriellen Revolutionen der Moderne haben die rauchenden Dampfrösser die Phantasie von Komponisten zwar schon immer beflügelt – mit Arthur Honeggers „Pacific 231“ oder Pierre Schaeffers „Etudes aux chemins de fer“ seien nur die bekanntesten genannt. Der Qualitätssprung im Jahr 2010 ist jedoch ein anderer: Nicht neuartige Musik sprang hier gewissermaßen auf den Zug auf, es wurde ein Zug auf die Schienen gesetzt, um die Neue Musik zu den Menschen zu bringen.
Der rollende Sound-Art-Container
Drei Uralt-Waggons (und eine Lok) wurden mit großem Aufwand zu zeitgemäßen Sound-Art-Containern umgerüstet, die in 19 Tagen 3.375 km zurücklegten und entlang ihrer Route 255 Netzwerkpartner und 150 Konzerte passierten.
Initiiert wurde diese Reise von der Zentrale des Netzwerks Neue Musik in Berlin, einem Förderprojekt der Bundeskulturstiftung, das im Laufe von vier Jahren 11 Millionen Euro an Fördergeldern für die Vermittlung Neuer Musik an insgesamt 15 Netzwerkprojekte ausschüttete. Die Idee der Vernetzung regionaler, mit Neuer Musik befasster Veranstalter, Musiker und Musikvermittler zum Wohle der Neuen Musik steht im Zentrum des Projekts, das nun, nach zwei Dritteln der Förderdauer, mit der großen Fahrt die öffentliche Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Aktivitäten der Partner des Netzwerks Neue Musik lenken wollte.
Klingendes Deutschland!
Ob mit, ob ohne real existierenden sounding D-Zug, das Wunder dieser Reise ist ja glücklicherweise noch eine Alltäglichkeit in diesem Land: Ohne Schwierigkeiten kann man knappe drei Wochen durch Deutschland fah-ren und auch abseits der Metropolen überraschende musikalische Entdeckungen machen. Sounding D – Klingendes Deutschland! (Manchmal genügt es, zum Wörterbuch zu greifen, um den Sinn hinter den Dingen zu erfahren.) Die lokalen Netzwerke von Dresden bis Passau hatten für den Tag des Zwischenstopps des Zuges ein Programm zusammengestellt, das sich zumeist als Mischung aus musikalischen Interventionen in Außenräumen und neutönerischer Stadtführung präsentierte. Hier erwies sich für jenen, der dem Luxus frönte, für einige Zeit im Gefolge des Zuges zu reisen, dass die Suche nach dem Besonderen auch den gegenteiligen Effekt produzieren kann: Das Unverständnis, mit dem viele Passanten dem Getön und Getöse, das dem eingefahrenen Zug in vielen Bahnhöfen entgegen gebracht wurde, teilte er nicht bloß, es wuchs in ihm zur Verzweiflung. Junge, attraktive Menschen verteilten schicke Flyer, überall las man „Neue Musik“ – und die Ahnung stieg in ihm auf, dass hier gerade „der Neuen Musik“ in guter Absicht ein Tort getan wird. Nicht, dass er mit Gewissheit sagen könnte was das ist, „die“ Neue Musik. Doch waren die engagierten Musiker, in den Bahnhofspassagen allen Widerwärtigkeiten des lauten, hektischen modernen Lebens ausgesetzt, selbst bei größter Hingabe kaum in der Lage, mit der aggressiven oder zerbrechlichen, der brachialen oder der leisen Musik, die sie hier vorstellten, einen Eindruck davon zu vermitteln, was den Zauber der Neuen Musik, die allenthalben gespielt (und gefördert wird) ausmacht. Freilich: Es gab eine Bahnhofsoper in Berlin, die sich mit in die Hektik der Umgebung einpasste. Es gab Konzeptionen wie die von Günter Steinke im Essener Hauptbahnhof, die zum Stehenbleiben zwangen und den raren Passanten, der sich zehn Minuten seiner Überraschung hingeben konnte, in ihre Welt mitnahm. Meist brauchte es dafür jedoch wenigstens den repetitiven Sog einer Komposition wie Terry Rileys „In C“.
Flashmobs und Rebonds
Damit zog die Dresdner Kammerphilharmonie beinahe ein größeres Publikum an als der musikalische Flash-Mob (In D) von Carsten Hennig am Dresdner Altmarkt. Den zahlenmäßigen Publikumserfolg darf die Kölner Philharmonie für sich verbuchen – in einem dreiviertel gefüllten Saal erlebte ein sehr gemischtes Publikum Musik von Birtwistle bis Zappa. Bei einem genaueren Blick in das Gesamtprogramm des sounding D-Zuges stellt sich der überraschende Befund ein, dass – neben vielfältigen „Musikvermittlungsmusiken” von zur eigenen Kreativität angehaltenen Schulklassen – John Cage und Iannis Xenakis die Hitliste der Aufführungen anführen. „Rebonds“ von Iannis Xenakis könnte man gar als die heimliche Hymne von sounding D bezeichnen, die Vorstellung von sounding D in Berlin eingeschlossen, wurde sie dreimal dargeboten. Am problematischsten wohl in Freiburg, wo das Solostück von fünf Schlagzeugern ausgeführt wurde.
Damit rührt man an eine weitere Problematik, die beim großen Zugereignis offenbar wurde: Die Qualität der Aufführungen war nicht immer der geeigneten Vermittlung zuträglich.
Die Einbindung in Soundspaziergänge und Ähnliches trat gegenüber der gehaltvollen Interpretation in den Vordergrund. Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass ausgerechnet Iannis Xenakis, dessen Musik sich durch eine enorme, bis an die Überforderungsgrenze reichende Virtuosität auszeichnet, derart oft gespielt wird. Seine Musik scheint ein Beispiel zu liefern, dass Neue Musik gerade dann, wenn sie „wenig entgegenkommend“ ist, vermittelbare Qualitäten besitzt. Man sollte nicht unterschlagen, dass nicht zuletzt die improvisierte Musik ihre Qualitäten ausspielte – nicht nur in Moers, einer Traditionsadresse in dieser Hinsicht, sondern auch in Augsburg und Passau.
Ach, Eisenach!
Und schließlich, ach, Eisenach! Gekrönt wurde die Tour d‘Allemagne des tönenden D-Zuges von einem dreitägigen Festival, das die geografische Lage des Austragungsortes zum Leitmotiv erklärte: mittendrin wie Eise-nach in der deutschen Landkarte war nun die Neue Musik angekommen. Gemeint war: die Mitte der Gesellschaft. Zoro Babel, Daniel Ott, Kirsten Reese, Erwin Stache und Enrico Stolzenburg hatten für diesen Anlass ein mehrtägiges Spektakel ersonnen, das neben der Wartburg auch ihr Umland eroberte: In einer Klangexpedition mit sensationellen Klangrucksäcken, Kanuballett, Klangträgerfussballspielen, klingenden Bergen und am Ende gar einem klingenden Heißluftballon. Größer als die Klangrucksäcke war allein der Ideenfundus des Quintetts, der sich leider eher „für die Vögel“ eröffnete, als für ein großes Publikum – was schade war angesichts des heiligen Ernstes, mit dem die Truppe ihre Landnahme durchführte.
Wer nun angesichts der Bemühungen um Vermittlung Neuer Musik, die im Zentrum der Aktivitäten des Netzwerks Neue Musik stehen, besondere Bemühungen um ein Publikum, gleichsam eine Leistungsschau der Musikvermittlung in Eisenach erwartete, wurde enttäuscht. In einer dialektischen Volte besann man sich hier wieder auf die gute alte Primärvermittlung durch Interpreten: KNM Berlin, Neue Vocalsolisten und Ensemble Modern verstehen sich darauf. Wenn auch Benedict Masons „explodiertes Orchester“ mit Mozart-Konzert-Verschnitten eine höchst kontroverse Aufnahme fand.
Ein feiner Zug
Unter Marketing-Gesichtspunkten muss man sounding D als einen Erfolg werten. Wo immer der Zug Halt machte, wurde er von großen Kamera-Augen und Mikro-Ohren empfangen, er wurde mit politischen Reden willkommen geheißen und hinterließ Spuren in den Druckerzeugnissen der Tagespresse, wo immer er einlief. Selbst die Anzeigetafeln der Deutschen Bahn zeigten ungewohnte Buchstabenkombinationen, die einen „Klangzug“ ankündigten, die Bahnhofssprecherinnen und -sprecher kündigten – mal mehr, mal weniger häufig – mit regionalem Stimmeinschlag von der besonderen Fracht, die da auf einem (gelegentlich etwas abgelegenen) Gleis Halt gemacht hatte: „Besuchen Sie den Klangzug mit Klanginstallationen und Hörspaziergängen auf Gleis 22.“
Im Inneren des Zuges konnte man eine Klanginstallation erleben, die in anderer Form im Internet fortlebt: eine klingende Deutschlandkarte, die präg-nante Hörpunkte aufgreift. In der Installation von Robin Minard konnte man in einem tiefblauen Raum in die Hörwelten eintauchen.
Die Verhältnisse verkehrten sich: Man selbst bleibt statisch, die Welt zieht vorüber. Rauscht weiter wie der sounding D-Zug, der wohl inzwischen wieder als Partywagen über Nebengleise fährt. Was in Sachen Neuer Musik in Deutschland bewegend ist, damit hat er nichts mehr zu tun. Er hatte es vielleicht nie.
blogs.nmz.de/sounding-d
Der Zug im nmz-Blog
Von Beginn an stand die Zugfahrt des sounding D-Zugs unter ständiger Betreuung durch Mitarbeiter der nmz: das Filmteam auf der einen Seite und drei Blogger mit Tonaufzeichnungsgeräten, Fotoapparaten und Schreibset sequenziell. Während Jörg Lichtinger zu Beginn hämisch Dresden dazu beglückwünschte, endlich einmal vor Berlin die Nase vorn zu haben, zeigte er auf der dritten Station in Hamburg schon Anwandlungen in japanischer Verskunst:
27.8.2010 – 19.31 Uhr: „Gestern noch waren vorbeirauschende Züge Klang-Ereignisse. // Heute sind sie wieder Lärm. // Der Regen fällt.“
Zur gleichen Zeit verrätselte sich Martin Hufner in ästhetischen Verästelungen über Töne in D und C und suchte nach „Neuer Musik“ im RBB, die er nur bei fritz! fand.
In Oldenburg gab es dann schließlich den ersten Krach, als den Blogautoren vorgeworfen wurde, sie hegten Dünkel gegenüber der Provinz:
Jörg Lichtinger:
9.8.2010 – 18.14 Uhr: „Oldenburg ist wieder so ein nettes Städtchen mit einer Innenstadt aus zwei- bis dreistöckigen Bürgerhäusern, in der die Bürgersteige hochgeklappt sind, weil Sonntag ist. (…) Am schwersten tun sich die Sicherheitsleute der Bahn – die dürfen natürlich auch nicht weglaufen.“
Streit, der aber sogleich produktiv wird, wie übrigens im Blog nur in Oldenburg. Paul Hübner, musikalischer Mitspieler in Oldenburg, antwortet:
31.8.2010 – 1.13 Uhr: „Schön, dass hier fleißig diskutiert wird – ganz ohne Folgen sind solche Aktionen also nicht, selbst wenn sie nur dazu dienen, die eigenen Positionen zu reflektieren und zu schärfen.“
In Köln, inzwischen war Patrick Hahn an Bord, war großer Bahnhof angesagt, und in Stuttgart holte Patrick Hahn dann aus, warf den Freiburger Netzwerkpartnern fast Sabotage vor, wühlte sich durch die Programme und befand:
6.9.2010 – 12.11 Uhr: „...so ergibt sich ein überraschender Befund. Neben all den ‚Musikvermittlungsmusiken‘ von Schulklassen und allem Möglichen führen John Cage und Iannis Xenakis die Hitliste der Aufführungen an. (...) Was an diesem Befund überraschend ist: entgegen mancher Vorurteile werden also tatsächlich zahlreiche Neue-Musik-Werke gespielt, durchaus solche der ‚härteren Art‘. Wie kommt es daher, dass die Wahrnehmung des sounding D-Projekts davon nicht stärker geprägt ist?“
Schließlich noch ein Kommentar des nmz-Herausgebers Theo Geißler zum Abschlusskonzert in Eisenach mit einem „Werk“ von Benedict Mason:
12.9.2010 – 22.20 Uhr: „Sinnlos-unsinnlich zusammengeschustertes Klangmaterial, das seine Entstehung noch durchsichtiger macht, wenn man den nachträglich ausgehändigten, zynisch-doofen ‚Erläuterungstext‘ des Notensetzers zu lesen bekommt, in dem schon auf die FAZ-Kritik spekuliert wird – nichts als peinlich.“
Die Details sind nachzulesen, nachzusehen und nachzuhören unter http://blogs.nmz.de/sounding-d/ – 154 Artikel, 92 Kommentare.