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Thomas Kesslers „Utopia“ mit der Staatskapelle Weimar. Foto: Maik Schuck
Thomas Kesslers „Utopia“ mit der Staatskapelle Weimar. Foto: Maik Schuck
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Auf der Suche nach dem Utopischen: zur Berliner Maerzmusik 2010

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Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus ist in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus Pragmatismus gefragt. Visionen haben es schwer. Wieweit sie noch in der Kunst weiterexistieren fragte die diesjährige Maerzmusik, das Festival für aktuelle Musik Berlin, unter dem dialektischen Motto „Utopie [verloren]“. Matthias Osterwold, der künstlerische Leiter, hatte dazu Kompositionen und Produktionen ausgewählt, in welchen politische, technische, spielpraktische und rein musikalische Momente des Utopischen anklingen.

Bei den musiktheatralischen Produktionen, welche das 10tägige Fest einrahmten, ging es um negative Aspekte. Lucia Ronchetti nahm in „Der Sonne entgegen“ realistisch die Zerstörung des Utopischen im Prozess der Globalisierung in den Blick, ließ den Text Steffi Hensels aber derart dominieren, dass für Musikalisches kaum noch Platz blieb. Subtiler widmete sich Salvatore Sciarrino in „Luci mie traditrici“ (Meine trügerischen Augen) dem Thema der unerfüllten Liebe. Ebenfalls mit dem Klangforum Wien stellte Beat Furrer kurz nach der Baseler Uraufführung sein eigenes „Wüstenbuch“ in der Berliner Schaubühne vor. Die Inszenierung Christoph Marthalers reduzierte dabei Ingeborg Bachmanns Expedition in die ägyptische Wüste zu einer „Suche an sich“, zu einem Irrweg, einem Totentanz.

Weniger beeindruckte am Festivalende das Stück „Rithaa – ein Jenseitsreigen II“ von Mela Meierhans. Provoziert durch die Minarett-Diskussion in ihrer Heimat würdigte die Schweizerin darin die hohe Bedeutung der Totenklage in der arabischen Welt. Während sie beim Jenseitsreigen I eine alpine Jodeltruppe integriert hatte, bezog sie nun die palästinensische Sängerin Kamilya Jubran ein. Aber trotz Video- und Textprojektion wurde es kein Musiktheater.

Manche Utopien der Vergangenheit blieben uneingelöst. Nikolai Obuchow, ein russischer Pionier der Zwölftontechnik und der elektronischen Musik, hatte seine Heimat nach der Oktoberrevolution verlassen. In Paris schuf er sein gigantisches, weit über Skrjabin hinausführendes Hauptwerk „Le Livre de Vie“, das noch nie als Ganzes erklang. Die halbstündige Einleitung brachte nun Roland Kluttig mit dem Konzerthausorchester und drei Vokalsolisten zur eindrücklichen Aufführung. Spieltechnische Aspekte hatte Thomas Kessler im Blick, als er 2009 ein neues Orchesterwerk „Utopia“ nannte. Um die musikalischen Einzelenergien, die in einem Sinfonieorchester stecken, zu „retten“, gab er jedem einzelnen Musiker die Möglichkeit zu live-elektronischer Steuerung – als „eine neue Reise in eine bessere – live-elektronische – Welt“. Wie fast alle Utopien besitzt diese eine gewisse Einseitigkeit, denn auch ein Orchesterkollektiv hat eigene Qualitäten. Diese bewies die Staatskapelle Weimar, welche das Werk beim letzten Kunstfest Weimar uraufgeführt hatte, auch bei negativen Utopien von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann.

Als Festival für „aktuelle Musik“ will die nun zum neunten Mal durchgeführte Maerzmusik nicht das Neue um jeden Preis. Frederic Rzewskis 1975 entstandene Klaviervariationen „The People United Will Never Be Defeated!“ erinnerten trotz der nicht völlig überzeugenden Wiedergabe durch Heather O’Donnell gültig an die Utopie einer Verbindung von Avantgarde und Volkstümlichkeit. Die Altmeister Dieter Schnebel und Klaus Huber boten Neues: Schnebel einen fast plakativ wirkungsvollen Bachmann-Zyklus für Stimme und Kammerensemble, Huber eine faszinierende erste Auseinandersetzung mit Live-Elektronik in „Erinnere dich an Golgatha“ für Kontrabass und 18 Instrumente.

Im Vergleich dazu muteten die Werke der jüngsten Generation, welche das Ensemble ascolta zur Uraufführung brachte, eher belanglos an. Auch Michael Pisaros Klangkomposition „A wave and waves“, welche im neuen „Wellenfeld“ der Technischen Universität 100 Perkussionsinstrumente auf 100 Kanälen präsentierte, wirkte eher wie eine technische Spielerei. Dennoch, und das ist entscheidend, gelang es den Festivalmachern, ein breites Publikum und sogar die schulische Jugend an dieser Suche nach dem Utopischen zu beteiligen.

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