Seit zehn Tagen war Hans-Georg Kaiser nicht mehr im Ensemblehaus im Freiburger Osten. Die Eingangstür macht er mit dem Ellenbogen auf. Der lange Gang, den sonst in Probenpausen des Freiburger Barockorchesters bei groß besetzten Projekten wie den Beethoven-Symphonien rund 50 Personen beleben, ist leer und still. Durch das gekippte Fenster im Besprechungsraum scheint die Sonne, und man hört Vogelgezwitscher. Aber die Idylle trügt.
„Das Freiburger Barockorchester spielt bei jedem Konzert ums Überleben“, hat der Intendant einmal bei einem früheren Gespräch gesagt. Und damit gemeint, dass sich das freie Ensemble nie zurücklehnen könne, sondern immer maximalen Einsatz zeigen müsse, damit es von den Veranstaltern wieder engagiert werde. Kein Dienst nach Vorschrift also, sondern bedingungslose Hingabe, die man bei den Konzerten des Orchesters auch hört. Durch die Corona-Krise sind erst einmal alle Konzerte bis zum 10. April gestrichen – ein Honorarverlust von 314.800 Euro. Würden die weiteren Auftritte bis zum Ende der Saison gecancelt, bewegten sich die Verluste bereits im siebenstelligen Bereich. Dann ginge es ums wirkliche Überleben des weltweit gefeierten Originalklang-Ensembles. Noch auf einer Australientournee Anfang März hat sich Hans-Georg Kaiser deshalb in einem offenen Brief an verantwortliche Landes- und Kommunalpolitiker gewandt, um auf die prekäre Situation des als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) organisierten Orchesters hinzuweisen, das 75 Prozent seines 4,5 Millionen-Euro-Budgets selbst einspielt und deshalb besonders vom Auftrittsverbot betroffen ist. „Ohne Hilfe von staatlicher Seite ist ein solcher Ausfall nicht zu kompensieren“, heißt es in dem Schreiben.
Rücklagen darf das Orchester aus rechtlichen Gründen nicht bilden. Die geplante Umbildung der GbR zu einer gemeinnützigen Genossenschaft ist noch nicht vollzogen. Die 29 Orchestermitglieder, die als Gesellschafter das finanzielle Risiko tragen, werden nach Tagessätzen bezahlt. Die Gehälter für neun Büroangestellten laufen weiter, obwohl derzeit keine Einnahmen durch Konzerte generiert werden: eine brenzlige Lage! „Wir versuchen gerade, die Sicherzeit zurückzugewinnen, die wir brauchen, um unsere Musiker und ihre Familien zu ernähren“, sagt Hans-Georg Kaiser. In täglichen Videokonferenzen wird im Büroteam die Strategie besprochen. Spendenaufrufe gehen ans Publikum über die Website, aber auch in persönlichem Gespräch an Förderer und Sponsoren. „Wir sind inzwischen sehr gut vernetzt mit der Politik und der Wirtschaft und finden mit unserem Anliegen durchaus Gehör“, sagt Kaiser. Feste Zusagen über finanzielle Mittel gibt es allerdings noch keine.
Für den künstlerischen Leiter Gottfried von der Goltz ist die gegenwärtige Situation „merkwürdig. Keiner weiß, wie es weitergeht.“ Durch seine Professur für Barockvioline an der Freiburger Musikhochschule hat er keine wirtschaftlichen Sorgen, sondern kann die Zeit mit seiner Familie auch genießen. Aber ob sich die Veranstalter nach der Krise das Orchester noch leisten können, wisse er nicht. „Künstlerisch vermisse ich vor allem die Matthäuspassion, mit der wir gerade auf Europatournee gewesen wären“, sagt von der Goltz.
Die Geigerin Christa Kittel gehört zu den Mitgliedern, die nur vom Freiburger Barockorchester leben. Die Situation empfindet sie als „hochgradig beunruhigend“. Konkrete Existenzsorgen mache sie sich nicht, da sie eine Großfamilie im Hintergrund habe, die zur Not einspringen würde. „Aber ich schaue schon besorgt in die Zukunft, weil wir als Orchester ja auch von einer funktionierenden Wirtschaft abhängig sind.“ Als Orchestervorstand ist sie nah dran an den internen Diskussionen. Die gemeinsamen Proben und Konzerte fehlen ihr. „Musik ist für uns nicht nur Pflichtprogramm, sondern auch Austausch und Begegnung“, sagt die Geigerin, die wie von der Goltz schon seit Gründung des Orchesters in den 80er-Jahren dabei ist. Aber die Coronakrise hat für sie auch positive Seiten. „Man denkt über manches intensiver nach und kommt zur Ruhe. Auch persönliche Kontakte können intensiver werden, obwohl man sich nicht sieht.“ Zum Üben greift sich auch mal zur modernen Geige oder spielt Bach-Partiten. Aber wie Gottfried von der Goltz wäre sie deutlich motivierter, wenn ein konkretes Konzertprogramm anstünde. Bis es soweit ist, werden alle für den Fortbestand des international renommierten Orchesters kämpfen. Zerfallserscheinungen gebe es keine, meint Hans-Georg Kaiser: „Die Krise schweißt uns noch fester zusammen!“