In Berlin, wo Richard Strauss, zwei Opern von Hans Sommer (1837–1922) dem er kompositorisch hörbar viel verdankt, dirigiert hat, erlebte Sommers Opus 6 seine späte Erstaufführung. Frankfurts GMD Sebastian Weigle kombinierte im Sinfoniekonzert des bestens disponierten Konzerthausorchesters Wagners „Rienzi“-Ouvertüre und Dvoráks Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95, mit Sommers sechs Sappho-Gesängen aus den Jahren 1883–1885: eine Entdeckung, nicht nur im Vorfeld des Wagner-Jahres.
Hans Sommer war eine Doppelbegabung. Die naturwissenschaftliche Karriere von Hans August Friedrich Zincken, so der bürgerliche Name des Stiefsohns von Wilhelm Friedrich Voigtländer, gipfelte in den naturwissenschaftlichen Positionen als Professor und Direktor am Polytechnikum in seiner Heimatstadt Braunschweig.
Als Komponist zunächst unter dem Pseudonym E. T. Neckritz, später als Hans Sommer, schrieb er zehn Opern und war insbesondere als Liederkomponist seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in deutschen Konzertsälen stark vertreten.
Sommer, Schüler von Adolf Bernhard Marx und Franz Liszt, gründete den Braunschweiger Patronats-Verein zugunsten der Bayreuther Festspiele und empfing Richard Wagner und dessen Frau Cosima, mit der er auch nach dem Tod des Bayreuther Meisters weiter in Kontakt stand, persönlich.
Zusammen mit Richard Strauss gründete Sommer die AFMA, Vorläufergesellschaft der GEMA. Richard Strauss brachte zwei seiner Opern zur Uraufführung und profitierte als Komponist hörbar von Sommers Einfällen.
Nach der späten Uraufführung 2010 in Bamberg, standen nun in Berlin Hans Sommers „Sappho-Gesänge“ in dessen eigener Instrumentierung – mit zweifachem Holz, 4 Hörnern, 2. Trompeten 3 Posaunen und Bassposaune, sowie Pauken und Streichern – im Mittelpunkt eines Konzerts des Konzerthausorchesters Berlin.
Nicht nur der Komponist, auch die Dichterin dieser ursprünglich für Klavier gesetzten Lieder birgt sich hinter einem Pseudonym: Carmen Sylva hieß eigentlich Elisabeth zu Wied (1843 – 1916) und wurde durch Heirat Königin von Rumänien.
Ihre sechs der griechischen Dichterin Sappho in den Mund gelegten Gedichte sind bogenförmig angelegt; die dem rondoförmigen dritten Gedicht vorangehenden und die beiden nachfolgenden Kompositionsvorlagen sind in Kreuzreimen, das letzte in Paarreimen gehalten. Der Komponist geht jedoch sehr frei mit diesen Texten um, wiederholt beliebig Worte, Verse, oder Satzteile. Sein Klangkosmos, kurz nach dem Tod des Bayreuther Meisters, im Spannungsfeld von Liszt und Wagner – baut sich langsam auf.
Der Topos des Ufers scheint den dritten Aufzug des „Tristan“ nahe zu legen, und so erhebt sich im ersten Gesang über den Streichern eine tristanische Fragefigur. Die Hörner scheinen das Schicksal zu symbolisieren, während das Holz klagt und die erste Violine im Flageolett verklingt. Im zweiten, strophisch geformten Lied gehört (wie in der Opernvorlage) dem Englischhorn die Weise. Im dritten Gesang scheint die eigenständige Melodieführung der Singstimme jenen Weg fortzusetzen, den Wagner bei Kundrys Erzählung initiiert hat, sie antizipiert aber in ihrem Fortspinnen bereits deutlich Strauss’ Elektra. Unisonofiguren im vierten Gesang verweisen auf Wagners Opernpraxis. Der letzte Abschnitt in Dur, zeigt die Stärken des Komponisten im Bereich des Heiteren, mit einem von der Flöte umspielten, volksliedartigen Thema und einer sinnigen Lautmalerei, wenn die ersten Violinen ihre Saiten so zupfen, wie der hier besungene Eros seine Saiten spannt und springen lässt. Die Gesangsfigur im Finalstück antizipiert bereits den Duktus der Gräfin aus Strauss’ spätem „Capriccio“.
Die aus den Noten vortragende Solistin Elisabeth Kulman wird der Alt-Tessitura dieser „für mittlere Stimme und Orchester“ gesetzten Gesänge gerecht. Die Mezzosopranistin setzt allerdings mehr auf stimmliche Bögen als auf Textausdeutung der nicht sonderlich wertvollen Poesie. Warum aber fiel die Wahl aus dem umfangreichen Werkkatalog Sommers gerade auf diese Lieder? Doch wohl kaum, um im ausgestellt homoerotisch affinen Berlin durch die PR-Ankündigung „Gesänge vom anderen Ufer“ zusätzliches Publikum zu akquirieren? Das Stammpublikum im nicht ausverkauften Konzerthaus geizte nicht mit Bravorufen.
Sebastian Weigle, der diese und andere Kompositionen Sommers für ein Schweizer CD-Label eingespielt hat, aber gleichwohl – im Gegensatz zu den Rahmenwerken von Wagner und Dvorák – Sommer nicht auswendig dirigierte, setzte bei der „Rienzi“-Ouvertüre auf die triumphale Kraft des Blechs im „Santo Spirito Cavaliere“ und forcierte in der Symphonie „Aus der Neuen Welt“ jene Intention des Komponisten, die als „amerikanisch sein wollend“ (wie Wagners Vorschrift in der Kompositionsskizze der Blumenmädchen-Szene lautet) zu umschreiben ist. Dabei evoziert Weigle die heilbare Welt schwarzweißer Westernfilme der Fünfzigerjahre, gemixt mit Verve in wagnerscher Chromatik und schneidenden Vorhalten, am überzeugendsten jedoch in den verhaltenen Passagen des Schlusssatzes.
Nächste Aufführung: 10. 03. 2012.