Das Bolschoi Theater in Moskau, seit 1776 erstes Haus am Platze, etliche Theater wurden in der Nähe gebaut, allein das Opernhaus mit dem festlichen Saal für 2300 Zuschauer, als eines der schönsten gerühmt, überragt alle. Uraufführungen gingen von hier aus um die Welt, „Schwanensee“, „Boris Godunow“. Das legendäre Theater wurde in den Revolutionsjahren 1905 und 1917 leicht beschädigt, den zweiten Weltkrieg überstand es nahezu unbeschadet, im Jahre 2005 aber fiel vorerst der letzte Vorhang.
Seitdem ist der stolze Bau verhüllt, wann die inzwischen verblichenen Prospekte fallen ist unklar, noch unklarer, was dahinter geschieht. Der für 2008 geplante Termin der Wiedereröffnung ist verstrichen, vom nächsten im Jahre 2011 ist nicht mehr die Rede. Derzeit heißt es 2013 werde das Haus eröffnet. Folgten zunächst die Schreckensmeldungen über das Ausmaß der Schäden, besonders gravierend die an den Fundamenten und der Fassade, denn das Theater wurde auf Pfählen in einem Sumpfgebiet errichtet, so sind es inzwischen die über Korruption, Vergeudung, Prozesse und Kostenexplosionen im Zusammenhang mit der Sanierung.
Aber, davon konnte man sich bei der jüngsten Opernpremiere des Bolschoi überzeugen, wenn gespielt wird, dann wird – wie im jüngsten Falle – hohe, streitbare Qualität geboten. Auf der Bühne der Neuen Szene, gleich neben dem Stammhaus, einem Theater mit nur 900 Plätzen, als Ausweichspielstätte, wurde zum ersten Mal überhaupt Alban Bergs Oper „Wozzeck“ in Moskau inszeniert. Das Meisterwerk des Musiktheaters im 20. Jahrhundert wurde bislang nur 1927 in Leningrad aufgeführt, dort wurde es auch beim Gastspiel der Dresdner Staatsoper 1975 gezeigt. Im Moskauer Bolschoi war 1982 bei Gastspiel der Hamburgischen Staatsoper die hoch gerühmte Inszenierung von Luc Bondy zu sehen, in den Hauptpartien Franz Grundheber und Anja Silja, am Pult Klauspeter Seibel.
Jetzt steht in Moskau der junge griechische Dirigent Teodor Currentzis am Pult und lässt mit erregender Intensität die Musik Alban Bergs in ihrer Nähe zur todtraurigen Melancholie Gustav Mahlers und ihrer Vorausahnung der fratzenhaften Visionen eines Dmitri Schostakowisch zum Ereignis werden. Das Orchester des Bolschoi-Theaters erweist sich als grandioser Klangkörper, vermag den Bogen zu spannen von kammermusikalischer Zerbrechlichkeit bis hin zu den mörderischen, erschreckenden und verstörenden Abgründen, die sich eröffnen in den Zwischenspielen, den Nachklängen oder Vorausahnungen der zumeist nächtlichen Szenen dieser Fragmente einer menschlichen Passion.
Dieser Unentrinnbarkeit der Musik entspricht die Inszenierung von Dimitri Tcherniakov im eigenen Bühnenbild. Es beginnt schon bevor die ersten Takte erklingen. Im schwarzen Zwischenvorhang eröffnen sich dem Zuschauer zwölf Einblicke. Zwölf Zimmer gleichen Maßes, in drei Stockwerken gewissermaßen, zwölf annähernd genormte Einrichtungen, zwölf Familien, bzw. jeweils Mann, Frau, Kind, öfter riesiger Bildschirm, immer aber bei völliger Abwesenheit von Kommunikation oder Nähe. Weil der Regisseur bei aller Detailversessenheit dennoch zu scheiden weiß zwischen Realität und Naturalismus bleibt der Zuschauer einbezogen im Spannungsfeld zwischen Distanz und fast unerträglicher Nähe. Mit den ersten Takten schließen sich die Einblicke und für die jeweils knappen Bilder des Dramenfragmentes öffnen sich entsprechende Räume.
Die Tragödie des armen Mannes Wozzeck, der korrekt mit schmalem Schlips im grauen Anzug gekleidet ist, durchwandert die Wohnungen, beginnt beim Hauptmann, der hier nicht mehr rasiert wird, sondern den Wozzeck in einer besonders perfiden, militärischen Sado-Maso-Variante erniedrigt und endet in den eigenen vier Wänden. Wozzeck hat die tote Marie wieder an den Tisch gesetzt, wüssten wir nicht was geschehen ist, man merkte es nicht, dass da in einer der vielen Stuben ein toter Mensch sitzt und alles irgendwie weiter geht unter dem Mond, von dem Wozzeck meint, er sei „ein blutig Eisen“. Mit eiserner Härte hat Tcherniakov in ein zeitgemäßes Bild gesetzt, was zeitlos ist, nämlich „Die Wunde Woyzeck“, von der Heiner Müller anhand der Wirkung des Dramenfragments von Georg Büchner sprach.
Ein in allen Partien musikalisch und darstellerisch überzeugendes Ensemble mit einem verstörend scharfsinnigen Georg Nigl in der Titelpartie und Mardi Byers als Marie, deren lyrische Zerbrechlichkeit und tragisch verblendete Auflehnung zutiefst berühren, macht den Abend zu einem so außergewöhnlichen wie intensiven Ereignis mit der so selten gewordenen Langzeitwirkung einer Opernaufführung.