Jenseits des Rufs, tiefschürfende Arbeit zu verrichten und Wertvolles zutage zu fördern – was haben Bergbau und Kultur gemeinsam? In beiden Fällen handelt es sich um unternehmerische Felder, die nur durch Subventionen bestehen können. Außerdem sind sie die Hauptprotagonisten der Kulturhauptstadt „Essen für das Ruhrgebiet“: Ruhr 2010.
Der mächtige Doppelbock von Schacht XII der Essener Zeche Zollverein schwebt als Symbol über der Kulturhaupstadt, die für sich in Anspruch nimmt, ein neues Modell von Urbanität zu verkörpern: Die „Metropole Ruhr“, die 53 „Local Heroes“ unter ihrem Dach vereint; von der Römerstadt Xanten bis zum westfälischen Bönen, von Schermbeck im Naturpark Hohe Mark bis zur Hansestadt Breckerfeld.
Spätestens seit die Ruhrtriennale ausgediente Industrieareale wie die Jahrhunderthalle Bochum, die Gebläsehalle im Duisburger Landschaftspark Nord oder die Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck zur Kulisse für spektakuläre Musik- und Theaterereignisse werden ließ, haben sich Faszination und Strahlkraft dieser Kathedralen einer untergegangenen Industriekultur unter Kulturschaffenden international herumgesprochen. Sie sind Symbole für den kulturellen Wandel, den die Veranstalter beschwören: „Kultur durch Wandel – Wandel durch Kultur“ lautet, die Losung, mit der Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt an der Spitze der Ruhr 2010 GmbH segeln.
Fritz Pleitgen war vor seiner Tätigkeit für die Kulturhauptstadt Rundfunkintendant, dessen größte künstlerische Leistung darin bestand, WDR 1 von einem Quotenkiller zur beliebten Jugendwelle 1Live umzubauen. Oliver Scheytt war Kulturdezernent der Stadt Essen, verweigerte seinem erfolgreichen Philharmonieintendanten die Rückendeckung und überließ das städtische Kulturschiff dann lieber sich selbst, um das große Ruhrrad zu drehen.
Über 300 Projekte haben sie im Laufe des Jahres nun zu verantworten – und noch bevor der Veranstaltungsreigen begonnen hat, deren Scheitern. Unter den bereits abgesagten Großprojekten war auch der Traum von einer „zweiten Stadt“, eines Besucherbergwerks, das tausend Meter unterhalb des Essener Weltkulturerbes auf Zollverein die heroischen Leistungen des Ruhrgebiets thematisieren sollte. Allein, ein Betreiber für dieses ehrgeizige Projekt wollte sich nicht finden. Gerade Musikfreunde werden enttäuscht bemerkt haben, dass von der europäischen Gesamtaufführung des „Licht“-Zyklus von Karlheinz Stockhausen, den die Kulturhauptstadt initiieren wollte, seit der Annahme der Bewerbungsunterlagen nicht mehr die Rede war. Hans Werner Henze steht nun im Zentrum eines Projekts, an dem 40 Institutionen beteiligt sind: Stadttheater und Kammerorchester, Kinos und Chöre, Jugendorchester und Musikschulen.
Die Rückkehr dieses „verlorenen Vaters“ der Neuen Musik ins Ruhrgebiet hat etwas Rührendes. Schon in den 1950er-Jahren kehrte Henze seiner deutschen Heimat den Rücken, deren drückendes Grau er in seiner Autobiographie eindrücklich beschrieben hat. Seine Mutter ist eine Bergmannstochter aus Witten, wo einige der ältesten Schächte des Ruhrgebiets liegen, woran sich nun auch Henze bei den wenigen öffentlichen Auftritten, die ihm seine Gesundheit erlauben, mit brüchiger Stimme erinnert. Die Würdigung Hans Werner Henzes verträgt sich solcherart aufs Trefflichste mit der Erzählung des „Mythos Ruhr“, die sich die Veranstalter zur Aufgabe gemacht haben.
Neben Repertoirewerken wie „Der junge Lord“ und der „Elegie für junge Liebende“, die in Dortmund und im Aalto-Theater Essen zu sehen sein werden, versucht sich innerhalb des Henze-Projekts das Bottroper Kammerorchester an Henzes erstem erhaltenen Bühnenstück „Das Wundertheater“ von 1948. An der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg wagt man eine Neuinszenierung von Henzes bislang letzter Oper „Phaedra“, die 2007 uraufgeführt wurde.
Eine Gesamtdramaturgie sucht man vergeblich innerhalb dieses Henze-Reigens, der – wie das übrige Musikprogramm auch – unter der künstlerischen Leitung von Steven Sloane steht. So konzentrieren sich die Erwartungen auf die geplante Uraufführung eines neuen Musiktheaters für Jugendliche bei der Ruhrtriennale mit dem charmanten Titel „Gisela oder die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“. Es ist wohl verfrüht zu fragen, welchen Zugang junge Zuschauer zur Gefühlswelt der Oberhausener Kunsthistorikerin Gisela finden werden, die sich in Neapel in den Schauspieler Osvaldo verliebt, „einen typischen Nachfahren jenes schlitzohrig-cleveren Pulcinella der Commedia dell’Arte“.
An kleineren Häusern wie dem Theater Hagen, wo man sich eine solche Uraufführung nicht (mehr) leisten könnte, macht man aus der Not eine Tugend: Neben Balletten Henzes veranstaltet man einen Kompositionswettbewerb unter dem Vorsitz des Henze-Schülers Glanert. Auf diese Weise kommt der künstlerische Nachwuchs immerhin in den Genuss eines Quantums Aufmerksamkeit.
Am Musiktheater im Revier verlagert man das Programm zum Teil gleich in die virtuelle Welt – eine Internetoper nach Henzes „Boulevard Solitude“ und Puccinis „Manon Lescaut“ soll hier von „Usern“ mitgestaltet werden. Darüber hinaus setzt das Musikprogramm auf die große Geste. Die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ wird auf die gesamte Metropole ausgedehnt und so insgesamt 175.000 Schüler einbeziehen. Masse soll auch sonst Klasse ersetzen. Zum „Day of Song“ am 5. Juni soll um 12.10 Uhr das gesamte Ruhrgebiet mit einstimmten, am Abend gar zur Kollektivimprovisation unter der Anleitung von Bobby McFerrin im Fußballstadion. Mahlers Sinfonie der Tausend unter Leitung von Lorin Maazel mit zahlreichen Chören und Orchestern des Ruhrgebiets ist eine weitere Facette dieses gigantomanen Musikgeschmacks.
Luftige Gesten setzen sich schließlich in 400 gelben Ballons fort, die Ende Mai „Schacht-Zeichen“ setzen und damit jene Stellen markieren, an denen früher Fördertürme standen – als Bild für den Wandel, den diese Region durchgemacht hat. Mit einem kollektiven Picknick auf der A40, dem Ruhrschnellweg, möchten die Veranstalter auf der „Hauptschlagader der Metropole Ruhr“ die Alltagskulturen feiern. Ob es im Sinne der Veranstalter ist, dass dieses Bild den einen oder anderen an die Zeit der Ölkrise erinnern wird, als die Bundesbürger am autofreien Sonntag die Verkehrsadern für sich eroberten? Unfreiwillig drängt sich die Assoziation auf, dass der Wandel, der hier beschworen wird, kein kultureller, sondern ein Klimawandel ist.
Man könnte gar das gesamte Programm dieser „Kulturhauptstadt“ als Dokument für einen Wandel des „kulturellen Klimas“ nehmen. Die Pyrotechnik für das Höhenfeuerwerk zur Eröffnungsfeier war kaum platziert, da trübte der Essener Opernintendant Stefan Soltesz die Vorfreude mit einem Knallfrosch, fallengelassen in Form eines offenen Briefes, in dem er seine Dienstherren darum bat, die Kultur nicht länger zum „Sündenbock“ zu stempeln für die finanzielle Misere der Städte – zumal im Jahr von Ruhr 2010 (siehe nmz Online).
Das kulturelle Kapital, das die Metropole Ruhr mit 120 Theatern, 100 Konzertstätten, 200 Museen und über 1.000 Industriedenkmälern tatsächlich hat, ist mehr bedroht denn je. Und man fragt sich, ob das Kulturhauptstadtjahr dazu angetan ist, seinen Fortbestand zu sichern oder ob es eine Form von „Abwrackprämie“ ist, die hier auf eine bürgerliche Kultur gezahlt wird. Der große Pinsel der Kulturmetropole Ruhr übertüncht die lokalen Wurzeln, die von Schließung bedrohten städtischen Theatern wie Oberhausen das Leben geschenkt haben, ihre Großmeierei ist nur ein anderes Gesicht des politischen Rufs nach Fusion, in dem bereits viele kleinere Betriebe verschwunden sind. An die Folkwang-Idee des Bankierssohns Karl-Ernst Osthaus – die Rückführung der Kunst ins Leben – anzuschließen, kam den Veranstaltern offenbar nicht in den Sinn.
Dabei müsste sie an erster Stelle genannt werden, nähme man den Gedanken eines kulturellen Wandels ernst. Bezeichnenderweise wurde der gespannt erwartete Umbau des Museums Folkwang durch David Chipperfield allein von privater Seite vorangetrieben – und dürfte vorerst dennoch vieles in den Schatten stellen, was Oliver Scheytt in seiner Schachtnovelle zusammengeschustert hat.
Der Schritt vom Kulturaustausch – cultural exchange – der am Beginn der europäischen Kulturhauptstädte stand, zum kulturellen Wandel – cultural change – ist kein geringer. Und vielleicht ist es daher grundsätzlich falsch, ein Programm, das nach den Maßgaben von Kulturtourismus und Stadtmarketing gestrickt ist, am Anspruch eines Kulturprogramms zu messen.
Dann müsste man Politikern und „künstlerischen Leitern“ auch verzeihen, dass sie in ihren Sonntagsreden „Kultur“ und „kreativ“ inzwischen syno-nym verwenden. Kunst und Bergbau sind schließlich beide: Subventionskulturen.