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Der WDR holt die Jugend in den Konzertsaal und lässt mit Bernd Alois Zimmermann neue Welten entdecken

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Als der Südamerika-Forscher Alexander von Humboldt in neue Welten vorstieß, erntet er bei den Einheimischen Lateinamerikas Unverständnis. So wurde die tropische Natur dieses weiten Kontinents ein lebensfeindlicher Raum war, den man meiden müsse. Doch für Humboldt war Wissen, also die Entdeckung des Unbekannten, das wahre Licht. Ähnlich verhält es sich heute für Kulturschaffende, wenn sie neues Publikum für zeitgenössische Kunstmusik gewinnen wollen. Auch der WDR will neuen jungen Zielgruppen helfen, musikalisches Neuland zu betreten. Das „Escape-Projekt“ als Bestandteil der traditionsreichen Konzertreihe „Musik der Zeit“ will vor allem die Schüler der Musikschulen in die Kölner Philharmonie holen.

Ortstermin in diesem einmaligen Konzertsaal zur dritten Folge dieses Projekts: Hatte im ersten Anlauf die Musik von Steve Reich an den Mitmachaspekt appelliert, so will nun ein Konzert zum Thema Lateinamerika vor allem das Bildhafte in der Musik vorführen.

Und da liefert Bernd Alois Zimmermann die ideale thematische Schnittmenge. Der 1971 verstorbene Kölner ist eine zentrale Gestalt für die Neue Musik seit der Nachkriegszeit. Zum anderen zeigt sein Werk immer wieder einen  Tonschöpfer, der alles andere als abstrakt agierte, sondern vor allem sehr bildhaft, ja oft aus regelrechten emotionalen Rauschzuständen heraus die  Töne setzte. Und der Südamerika nie bereiste, dafür umso mehr – fast schon obsessiv – von der Klangwelt dieses Kontinents begeistert war. Sind Fantasiereisen manchmal die besseren Reisen?

Bei der Fantasiereise in der Kölner Philharmonie sind die jungen Musikhörenden nicht mit der Musik auf sich allein gestellt – Hilfestellung beim Herstellen von Assoziationen bietet eine lockere Mischung aus Konzert, Text-Rezitation, Live-Interviews mit den Musikern seitens des Moderators Jörg Lengersdorf und eingeblendeten Bildsequenzen. Um ganz sicher zu gehen, hat sich der Kultursender WDR3 mit der Jugendwelle Einslive verbündet. Also ist auch Kulturmoderator Mike Litt bei seinem Publikum, wie er hell angestrahlt aus einer hohen Loge heraus über die Präsentation wacht.

Wir sind in Köln, einer Metropole des Musiklebens. Also hat es fast schon was Alltägliches, dass zu diesem Anlass Heinz Holliger ein hervorragend disponiertes WDR-Sinfonieorchester dirigiert. Der Schweizer bringt auf Anhieb den Klangkörper auf Touren. Das heißt, bei aller Komplexität auch rhythmisch nach vorne zu gehen, wenn Zimmermann hier so ausgiebig auf Darius Milhaud oder Hektor Villa Lobos zurückgreift. Holliger selbst hierzu: “Bernd Alois Zimmermann komponierte extrem komplex. Er schichtete unglaublich viel Material übereinander, das ist schwer zu spielen und zu dirigieren. Aber wenn man dies spielt, muss man auch manchmal einen Tango einfach nur erfühlen. Nur einfach die Noten durchzählen ist hier gar nichts.“

Zwischendurch lockern Lesungen aus dem Munde eines „Touristenführers“ (Makke Schneider)  auf - von Humboldt, Bruce Chatwin oder Daniel Kehlmann über die Begegnungen zwischen den Kulturen. Mal beschreiben sie fantasievoll Atmosphärisches, etwa, wie die Tierwelt des Urwalds erst bei Nacht so richtig erwacht. Die Klangimpressionen, die Zimmermann hier auf der Basis von Villa-Lobos und Milhaud entwickelt, verdichten diese Aura.

Höhepunkt des Abends ist schließlich Bernd Alois Zimmermanns Alagoana - eine fünfsätzige Komposition über einen indianischen Schöpfungsmythos. So viel Tiefe und emotionale Ausdruckskraft bündelt sich in dieser Ballettkomposition, die doch alles andere als eine heile Welt repräsentiert. Mann und Frau sind nicht mehr unsterblich, sobald die Liebe zwischen beide tritt - und damit der Tod. Stampfende rhythmische Impulse ziehen unter Holligers Dirigat in einen suggestiven Hexentanz herein. Anklänge an Ravels Bolero, motivische Zitate aus Strawinskys Sacre de Printemps oder Quartenmelodik wie bei Bartok verdichten diese Aura eines klingenden magischen Realismus voller Emotion und Bildkraft. Was in der Kölner Philharmonie hilfreich genug ist, um Vorurteile von der Lebensfeindlichkeit bisher unentdeckter (Klang-)Welten abzubauen.

Sendetermin: WDR 3, Fr 23.03.2012, 20.05 Uhr

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