Den ersten Unmut des Publikums am Ende des Premierenabends bekam der Dirigent ab: Roberto Abbado war ein Diener jener Szene, die häufig so turbulent war, dass es ihm oft nicht gelang, Orchester, Sänger und Bühnenorchester zu koordinieren, nachdem schon die ersten Schläge der Ouvertüre im tief abgefahrenen Graben an Gewaltigkeit vermissen ließen. Besonderer Publikumsunmut aber traf den musikalischen Leiter, da die Schlussszene gestrichen war.
Das hatte zwar schon Gustav Mahler in Wien und vor dem vermutlich auch Richard Wagner in Zürich so gehalten, aber später wurde auf die Scena Ultima mit dem ergötzlichen Rundgesang „So geht’s dem, der Böses tut“, nicht mehr verzichtet. Doch in Roland Schwabs Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin stirbt der Wüstling nicht und wird auch nicht bestraft. Die letzte Szene würde diese Interpretation ad absurdum führen.
Dennoch ist der neue „Don Giovanni“ mit drei und dreiviertel Stunden ein langer Mozart-Abend: die Fassung erweitert die Urversion von 1787 um die für Wien nachkomponierten Arien von Don Ottavio und Donna Elvira, und obendrein erfolgt die Ausführung der Rezitative in ungewöhnlicher Breite und mit immens langen Kunstpausen.
Der Grundansatz des Regisseurs, Don Giovanni und auch Leporello zu vervielfachen, wirkt zunächst wie eine Paraphrase auf Harald Schmidts „Hamlet“-Parodie, mit ihrer Versiebenfachung der Titelrolle. Denn Roland Schwab zeigt den männlichen Verführer als Serie von bis zu 24 Darstellern, die am Anfang des Abends durch Lippensynchronität mit Leporello eine Irritation schaffen, wer denn nun eigentlich der singende Protagonist ist. Die Vervielfachung leistet ein extrem bewegungsfreudiger Chor, mit Golfschlägern, quirligen Verrenkungungen und Breakdance-Figuren, später mit schwarzen Sonnenbrillen auf verchromten Schwingliegestühlen wippend, als Zugpferde für die Tretmühle endloser, von Giovanni und Leporello mit Gürtel angepeitschter Festivitäten, oder als Clowns auf und in rostigen Metallfässern.
Das Plädoyer des Regisseurs „für männliche Erotik, die ohne diese plakative ‚Primärgymnastik’ auskommt“, wird nicht voll eingelöst, denn auch sein Giovanni „fummelt“ – auch wenn er sich dafür zumeist einen langen goldenen Damenhandschuh überzieht. Und er wird im zweiten, stärkeren Akt, jenseits der Vervielfachung seiner Person, doch auch zu einer solistischen Persönlichkeit. In Schwabs Sicht sucht Giovanni nach seiner Bestrafung. Er hinterlässt nach seinen Untaten jeweils eine gelbe Karte, im Countdown von 7 bis 1. Elviras Kammermädchen hat er bereits erwürgt, bevor er ihr eigentlich nachstellt, um sie dann mit seinem Ständchen kurzzeitig wieder zum Leben zu erwecken. Auch die Anspielungen reihen sich, etwa an Pantomimenkunst (das Fensteröffnen Elviras im Golfschlägergeviert), an Frida Kahlo (die Barbusige mit metallgeschientem Bein auf einem Laufsteig vor dem Orchestergraben), oder an die Entkleidung der Frau als Akt der Luftakrobatik in der Schlinge des Kleides (Kostüme: Renée Listerdal).
Die zunächst leere, dann mit immer mehr Kulturmüll und Toten angefüllte Bühne von Pierro Vinciguerra nutzt die sich hebende und senkende Podesterie der vorhandenen Theatertechnik. Die Friedhofszene spielt vor dem Eisernen Vorhang: mit Taschenlampen suchen sich Giovanni und Leoporello im Publikum ihren potenziellen Komtur, und Leporello liest die Grabeinschrift von den Übertiteln – auf Deutsch. Die Vervielfachung der Männerwelt läuft in diesem Bild über Mickey-Mäuse mit Totenköpfen. Gleichwohl gewinnt die Spilastik der schauspielerisch überdurchschnittlich gut geführten Protagonisten – Ildebrando d’Arcangelo als Giovanni und Alex Esposito als Leporello – auch auf dem Orchestersteg, die Überhand.
Eine weitere Steigerung erfolgt beim Festmahl, das Esposito als ein an Virtuosität schwerlich zu überbietender Diener á la „Dinner for One“ zum komischen Erlebnis macht. An der langen Tafel nimmt die Herrengesellschaft bei Brot und Wein dann die Positionen von Leonardo da Vincis Abendmahl ein. Als Fleischbeigabe dient anschließend die auf der Tafel liegende Donna Elvira. Da der Komtur nicht wirklich erscheint, gibt es auch keine Höllenfahrt, sondern nur die Steigerung der Exzesse des Lebens. Die letzte Karte des überlebenden Giovanni gilt der Vernichtung des lieto fine, denn – wie der Regisseur es formuliert – „die wahre Hölle ist die Wiederholung“: Die Männer erheben sich wieder, und das „Giovanni-Prinzip“ dauert an, hier mit dem Lachen des Giovanni als letztem Klang. (Aber so neu ist das nicht: Giovannis Lachen hatte bereits 1981 in Kassel das lieto fine überdauert.)
Der besonderen Form eines „Dramma giocoso“ wird die bisweilen bewusst irritierende und verstörende, aber gleichwohl „ergötzliche“ Inszenierung des „Don Giovanni“ und seiner Rezeptionsgeschichte durchaus gerecht. Und was die Sängerdarsteller hier vollbringen, ist genussvoll zu sehen und zu hören. Die Stufung von Elvira, Anna und Zerlina passiert weder stimmlich noch gesellschaftlich, so ähnlich scheinen sich die drei Verführten angesichts der dominanten Männerwelt: Marina Rebeka als die ihr Verhältnis mit Giovanni lange leugnende Donna Anna schafft Sinnlichkeit mit samtenem Schmelz. Ruxandra Donose verkörperte eine bei aller Dramatik nuanciert lyrisch geführte, leidenschaftliche Elvira. Und Martina Welschenbachs Zerlina bleibt dahinter kaum zurück; auch sie ist mit allen Wassern gewaschen: sie stranguliert ihren Masetto (Krzystof Szumanski), bevor sie sich rittlings auf seinen Schoss setzt. Und Masetto scheut sich seinerseits nicht, auf seinem nackten Po die blutigen Initialien „D. G.“ zu zeigen. Der kraftvolle Tenor Yosep Kang als Ottavio und Ante Jerkunica als Komtur bleiben in ihrer Wirkung deutlich zurück hinter dem draufgängerisch agierenden und bisweilen sogar falsettierenden Bariton d’Arcangelo in der Titelrolle sowie dem skurrilen, enorm charakterisierungsstarken Bass Esposito als dem ersten seiner zahlreichen alter Egos.
Während der Mandolinen-Solist sein Solo offenbar über den Notentext hinaus verlängern wollte, sind die wenigen Einsätze des von Thomas Richter einstudierten Chores in dieser Oper makellos.
Nach Lachern und seltenem, aber heftigem Zwischenapplaus, für gesangliche Meisterleistungen ebenso wie für Slapstick, überwog beim Premierenpublikum am Ende der Unmut, angesichts der ungewöhnlichen Sichtweise, und die Buhrufe für das Regieteam übertönten die Bravos.
Weitere Aufführungen: 16., 21. 23., 26., 29.Oktober, 4. November 2010, 22., 25., 29. Juni 2011.