Zu den Jubilaren des Musikbetriebs im Jahr 2013 gehört neben Witold Lutosławski auch Benjamin Britten (es stand bzw. steht der 100. Geburtstag an). Die Hamburgische Staatsoper erinnert an den englischen Komponisten mit dessen Huldigungsoper „Gloriana“, die im Juni 1953 anlässlich der Krönung von Elizabeth II von Großbritannien im Opernhaus Covent Garden uraufgeführt wurde und Episoden aus dem letzten Lebensabschnitt der Vorgängerin Elizabeth I auf die Bühne brachte.
Es geht um die schwankende Zuneigung der alternden Monarchin der frühen Neuzeit zum Grafen Essex und zum Lord Mountjoy, die um die höchste Gunst konkurrieren. Aber es geht auch kalt und herrisch um weibliches Konkurrenzverhalten. Beiläufig müsste eine der vielen Rebellionen in Irland niedergeschlagen werden, was bekanntlich in der Regel nicht unblutig von statten geht, aber in diesem Fall unterm Kommando des zur Bewährung auf die Nachbarinsel geschickten Essex trotz der vielen abgeschnittenen Köpfe nicht gelingt. Auf die königliche Rüge an den bei der Irland-Mission Gescheiterten folgt dessen Putschversuch, auch dessen Scheitern und – trotz der persönlichen Zuneigung der Königin zum Rebellen – das fällige Todesurteil.
Bei wenig anderen Werken konnte Brittens die Zuneigung zur Musik des elisabethanischen Zeitalters so exzessiv und schön ausleben wie bei „Gloriana“. Die Folie des musikgeschichtlich genährten Tons ist zwar nicht allgegenwärtig, aber doch über weite Partien präsent. Beschworen wurde da vor sechzig Jahren nicht nur eine Bildwelt verblichener englischer Größe und Willensstärke, sondern auch eine musikalische Gloriole. Mit der Premiere des nur selten gespielten Werks wurde in Hamburg neuerlich eine Gelegenheitsarbeit auf den Prüfstand gestellt, die als merkwürdiger Zwitter erscheint: als Melange aus anachronistischer Prunk- und Kammeroper.
Der Regisseur Richard Jones versuchte aus dem Handicap eine britische Tugend zu machen, indem er das Unternehmen „Gloriana“ auf einer Vorstadtbühne in der englischen Provinz der Nachkriegszeit ansiedelte. Erkennbar und drastisch ist alles Pappkulisse. In der Mitte oben in einem vom Heimatmaler gestalteten Oval, umringt von Fahnen, repräsentiert die neue Königin Elizabeth II. Vier Meter tiefer gilt es ihrer als groß gefeierten Vorgängerin und Namenscousine, zu der im Krebsgang die Verbindung durch eine Revue der wichtigsten Monarchen auf dem Thron in London hergestellt wird.
Ein Rudel Pfadfinder marschiert vor jeder Szene nach vorn. Jeder der Jungs hält einen großen Buchstaben hoch – und die Lettern ergeben die Ortsangabe. Das festliche Turnier, das die Eifersucht des Earl of Essex gegen seinen Verwandten Mountjoy um die Gunst der als „Gloriana“ verehrten Königin nährt, wird mit Steckenpferd angedeutet. Das anschließende Duell führt unbarmherzig vor Augen, dass Tenor und Bariton tunlichst doch nicht mit Degen hantieren, sondern sich auf ihre Stimmen konzentrieren sollten. Wobei sowohl Robert Murray (als Essex) wie Moritz Gogg (als Mountjoy) solide Arbeit leisten, wenn die von Simone Young befehligte Kapelle nicht allzu fett und ohne die eigentlich oft gebotene Diskretion aufträgt – und Alfredo Daza profiliert sich als Höfling Cecil mit geschmeidigem staatstragendem Bass.
Der Charme der Nachinszenierung von Schülertheater der 1950er Jahre verbraucht sich freilich schneller, als es den mit Neugier aufs Stück angereisten Zuschauern lieb sein mag. Die bange Ahnung, dass der Dilettantismus nicht Spielvorgabe, sondern von der britischen Crew blutig ernst gemeint sein könnte, verdichtet sich zur höchsten Wahrscheinlichkeit. Amanda Roocroft muss das Altern der Königin mit Würde ausstehen. Aber sie dürfte es nicht derart unflexibel und ohne Faible für die kleinen Handbewegungen der Macht tun. Die mit Inbrunst oszillierende Stimme offenbart die persönliche Tragödie der unerfüllten Frau aus dem Aufsteigermilieu, in dem die Angst nicht nur als Mitesser bei Tische saß, sondern auch die Nächte mitgestaltete – Elizabeth I wurde durch die Gunst der väterlichen Geilheit und des historischen Augenblicks an die Spitze des Staates gespült, überlebte mit Hilfe von Thomas Walsingham, dem Erfinder der modernen Geheimdienste, sowie dem zeitüblichen blutigen Terror. Zur Beglaubigung dieser Frauenfigur erscheinen in Brittens Oper Anklänge an Puccinis „Turandot“ hochwillkommen – und einem Inszenierungskonzept, das die verschiedenen Ebenen der Geschichtlichkeit (ggf. ironisch-kritisch) herauspräparieren wollte, stünde längst das von Monty Python freigesetzte Potenzial zu Verfügung.
„Gloriana“ hält also die Chance bereit, im Zuge einer teils plakativ unterhaltsamen, teils subtil kammermusikalisch gehaltenen Tonspur modernes Musiktheater zu machen, das mit gebührender (shakespearscher!) Respektlosigkeit Schlaglichter auf Hofintrigen in Geschichte und Gegenwart wirft. Das würde allerdings mehr als den Willen zu Betulichkeit und Erinnerungsvermögen an die Jugendjahre der jetzt noch amtierenden Queen voraussetzen. Die Reaktivierung von „Gloriana“ dürfte gemeinhin als Zeichen der gesteigerten Aufmerksamkeit für den Jubilar Britten gedeutet werden. Aber das Zeichen der Zuwendung verkehrte sich in einen Fingerzeig, der an Denunziation grenzt. Es ist mehr als überfällig, dass Simone Young von ihrer Leitungsposition an der einst so dicht am Puls der Gegenwart operierenden Hanseatischen Staatsoper abgelöst und eine frische Brise an der Großen Theaterstraße ermöglicht wird.