Wohl dem, der sich zwischen den Jahren eine Atempause verschaffen konnte, um Sinne und Aufnahmefähigkeit wieder frisch zu bekommen. Denn es lohnte sich, im Stadttheater zu Münster empfänglich zu sein, dranzubleiben auch am überlangen Konzertmarathon, das beim 23. Internationalen Jazzfestival oft erst nachts endete. Wie gut, dass in Münster nichts parallel läuft – also gibt es keine Entscheidungsnöte, die zum selektieren, loslassen zwingen.
Zur aktuellen Ausgabe trug Fritz Schmücker viele erfrischend neue Farben auf. So etwas macht gleich zu Beginn des neuen Jahres den Horizont erfrischend weit und lässt zuversichtlich nach vorne blicken. Die Szene in ihrer wilden Pluralität, die Vielfalt an gelebter kreativer Freiheit und eine überbordende Spielfreude in so vielen, so konträren Konstellationen - das war der eigentliche „Star“ in Münster.
Auch der regionale Wettstreit im Rahmen von „Westfalenjazz“ ist hier an vorderster Stelle dabei. Preisträgerin Barbara Buchholz sorgte mit ihrem Theremin für die wohl sphärischste Darbietung des Festivals: Berührungslos formen die Gesten der Hände einen berührenden ein Gesang voller mikrotonaler Schwebungen und Glissandi. Und diesem standen bestechend ausgehörte, oft an die musique concrète erinnernde Geräuschgesten zur Seite. Der für den erkrankten Michael Wollny eingesprungene Schweizer Klarinettist Claudio Puntin erwies sich hier als wahrer Traumpartner mit seinen humorvoll-hintergründigen Aktionen.
Versuchsanordnungen
Ungewöhnliche Besetzungen sind bei vielen jungen Bands Programm und Versuchsanordnung zugleich. Das norwegische Quintett Zanussi Five konfrontierte gleich drei Saxofone mit einer ungestümen, auf hypnotische Ostinati abonnierte Rhythmusgruppe. Auch im alternativen Rock geht der Trend zur Minimalbesetzung. Noch einen Schritt weiter ging das Trio „Pelbo“, wo statt Gitarre oder Bass nun ein rotzfrech aufspielender Tubaspieler über die Bühne wirbelte. Charmante Leichtigkeit prallte immer wieder auf subversive Anarchie. Die zierliche Fanny Lasfargues traktierte den großen Kontrabass auf die wohl unorthodoxeste Manier in der französischen Band „Retroviseur“. Jazzrock, Noise, Minimal Music oder Punk? Was sind schon Schubladen, wenn junge Wilde aufbrechen, all dies zugunsten spontaner Interaktion und gelebter Freiheit negieren!
Aufregend spielfreudige, dabei überbordend fantasievolle Instrumentalisten bot Münster 2011 ohne Ende. Vor allem bei den Schlagzeugern war immer wieder pure Begeisterung angesagt. Bobby Previte profilierte sich als der Unbestechlichste seiner Zunft. Mit fabelhaften regionalen Künstlern stellte er die Originalbesetzung von Miles Davis „Bitches-Brew“ Sessions nach. Das traf zwar weniger die typischen, magischen Klangfarben des „Originals“ ,entfesselte aber eine überkochende rhythmische Interaktion, die ihresgleichen sucht.
Eine verlässliche Größe auf Münsters Jazzfestival sind immer schon die Momente sprühender Leichtigkeit gewesen. In dieser Hinsicht funktionierte Christian Muthspiels „Yodel Group“ verblüffend plausibel. Sechs ausgeprägte Musiker-Charaktere nahmen die Ingredienzen berühmter alpiner Volkskultur auf ganz neue, bis dato unbegangene Gratwanderungen mit. Echte Jodler waren in ihre melodischen Bestandteile zerlegt worden, um aus ihnen faszinierende instrumentale Improvisation abzuleiten. Ganz unverkrampft und von jedem Klischee freigespült schloss sich damit wieder der Kreis zur Naturmagie der Bergwelt. Und ganz ohne Jodeldiplom!
Joachim Kühn im Gespräch
So endeten lange Tage und Abende durchweg gut – und einer davon hatte mit einem Gespräch mit Joachim Kühn überaus positiv begonnen. Die Neugier auf das Livekonzert und die neue CD seines aktuellen Trios „Out of the Desert“ bestimmte die Fragen an den großen Pianisten. „Dass wir jetzt mit unserer Band schon beim dritten Album angekommen sind, markiert eine Weiterentwicklung. Und das vor allem auch in menschlicher Hinsicht. Wir haben so viel Spaß miteinander und der wird immer mehr.“ Freiheit, frei sein – diese Worte kommen in Kühns Rede immer wieder vor. Das heißt vor allem, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren. „Am besten spiele ich, wenn ich überhaupt nichts weiß.“
Und wo bleiben die langjährigen Erfahrungen, das Klassikstudium, die vielen Begegnungen mit genialen Musikern und vor allem die überaus prägende Phase des großen Trios mit Daniel Humair und dem – mittlerweile verstorbenen – JF Jenny Clark? „Das alles ist natürlich immer da und wirkt auch auf jeden Moment ein. Alles gründlich studiert zu haben, heißt, im entscheidenden Moment alles vergessen zu können.“ Beneidenswert klingt, wie er augenscheinlich die Dinge in Einklang miteinander gebracht hat: „Improvisieren findet nicht nur auf meinem Flügel statt. Das ganze, wahre Leben ist Improvisieren! Und ich bin innerlich immer freier geworden mit den Jahren. Ich habe mir einen Ort ausgesucht, an dem ich gerne lebe. Verweigere mich den vielen Ablenkungsfaktoren, die es gibt. Ich habe kein Handy, nutze auch kein Internet. Dafür male ich und liebe die Natur – das ist meine Inspirationsquelle.“
Was ihn an der marokkanischen Musik fasziniert hat? „Ich habe Marokko schon früher kennen und lieben gelernt. Jetzt war die Begegnung mit diesem wunderbaren Musiker Majid Bekkas der Auslöser, um mit den – ja immer gleich vorhandenen 12 Tönen – ganz neue Wege zu gehen. Und vor allem sind da diese unglaublichen Rhythmen!“
Die Lust am Rhythmus, ja an bis zum äußersten gehender rhythmischer Ekstase treibt Joachim Kühn, Majid Bekkas auf Oud und Guembri sowie Schlagzeuger Ramon Lopez beim spätabendlichen Auftritt gewaltig an. Mit tranceartig repetitiven Melodien aus der Gnawa-Tradition beschwört die Stimme des Marokkaners. Die dunklen Basslinien der archaischen Guembri wecken Erinnerungen an eigene, frühere Nordafrika-Reisen, als so viel aufregend klingende Exotik während endloser staubiger Busfahrten stundenlang aus dem Cassettenradio schepperte.
Für Joachim Kühn ist dies Treibmittel und Sprungbrett zugleich – perkussiv, oft an der Grenze zur Raserei bringt der den riesigen roten Steinway-Flügel zum Donnern, lässt vertrackte Läufe, Cluster, Figurationen aufblitzen. Mitten im Zentrum: Eine verblüffende Klarheit in den Tonbeziehungen, manchmal bis zur formalen Strenge verdichtet. Das ewige Erbe der Musik Johann Sebastian Bachs lebt in diesem Trio auch unter Wüstenbedingungen weiter.