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Die mühsame Suche nach Resonanz

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Seit dem BMU-Kongress 2018 hat sich die Lage der Schulmusik zugespitzt · Von Andreas Hauff
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„Resonanz“ lautete das Motto des 5. Bundeskongresses Musikunterricht in Mannheim, der schon vor zwei Jahren hätte stattfinden sollen. Inspiriert war es von der Resonanztheorie des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa. Rosa versteht Resonanz umfassend: musikalisch, zwischenmenschlich, soziologisch, philosophisch, pädagogisch, psychologisch – wenn man so will, als die Fähigkeit und Möglichkeit, mit Menschen, Dingen, Ideen, ja der Welt überhaupt in eine Sinn ermöglichende beiderseitige Beziehung zu treten.

Musizierenden Menschen sind derlei Erfahrungen in der Regel vertraut, aber haben sie auch ihren Platz in der Schule? Regiert dort nicht das notorische Sich-die-Welt-verfügbar-machen-wollen? Rosa bettet Musik und Schule aufschlussreich ein in ein umfassendes Bild von Gesellschaft. Doch inzwischen ist es schon wieder ein wenig still geworden um seine 2016 veröffentlichte „Soziologie der Weltbeziehung“. BMU-Ko-Präsident Jürgen Oberschmidt sprach in seinem engagierten Eröffnungsvortrag von einer gegenwärtigen „Resonanzkatastrophe“. Aber dennoch war Resonanz auf dem Mannheimer Kongress unmittelbar zu spüren – bei der Eröffnung, in den Konzerten, Workshops und Diskussionen, sogar in der kahlen Messehalle, die ein studentisches Vokalensemble immer wieder zum Klingen brachte. Spürbar war nach langer Corona-Abstinenz die Lust, Menschen wieder zu begegnen, miteinander zu reden, zu musizieren und zu lauschen.

Ein Idyll aber war es nicht. Auf Podien und in Arbeitsgruppen ging es erstaunlich schnell und ohne Umschweife zur Sache. Wieder gab es die berechtigten Klagen über Unterrichtsausfall, gekürzte Stundentafeln, mangelnde unterrichtliche Kontinuität, fachfremd unterrichtende Lehrkräfte, Probleme mit Kooperationspartnern, Defizite bei der Inklusion, fragwürdige Abiturvorgaben, technische und noch mehr didaktische Defizite bei der Digitalisierung. Hat sich eigentlich etwas zum Besseren gewendet seit Hannover 2018, fragt man sich? Aber immerhin, im dritten Jahr der Corona-Pandemie ist das Fach Musik noch am Leben. Die Gespräche sind lebhaft, man spürt Engagement und Energie im Raum – weit mehr als in jeder Videokonferenz. Es gibt offensichtlich Menschen, die nicht aufgeben, die sich inmitten eines Netzes von Unvollkommenheiten zu orientieren wissen und die das Kestenberg’sche Ideal eines musikalisch-musikerzieherischen Gesamtkonzepts noch nicht aus den Augen verloren haben.

Doch leider werden die Löcher im Netz immer größer. In allen Schularten und fast allen Schulen mangelt es an Musik-Lehrkräften. Für die einst so begehrten Studienplätze in der Schulmusik fehlt es flächendeckend an Bewerbern. Immer weniger Lernende entscheiden sich in der gymnasialen Oberstufe für das Fach Musik; besonders auffällig ist der Rückgang bei den Schwerpunktfächern oder Leistungskursen. Woher soll Nachwuchs kommen? Es gibt Schulen, in denen das Fach Musik kaum mehr existiert und an denen man sich mit einer CD über fehlende Ensembles hinwegtröstet.

Und wie soll man noch auf einen geregelten Musikunterricht setzen, wenn der geregelte Schulbetrieb als solcher ins Wanken gerät? Der Lehrer­mangel erfasst immer mehr Fächer. Vielerorts kann der Unterricht nur noch mit Quer- und Seiteneinsteigern gestemmt werden. Es fehlt an Reinigungskräften und bei den Schulleitungen, an IT-Wartung und -expertise, bei der Schulsozialarbeit und in der Schulpsychologie. Der Krankenstand ist dauerhaft hoch; Vertretungen sind kaum zu bekommen. Je nach Region und Schulträger sind die Gebäude marode und ist die Ausstattung mangelhaft. Mancherorts kollabiert der Schülertransport. Mangelverwaltung und Ad-hoc-Entscheidungen verdrängen die Pädagogik, und es gelingt oft nicht einmal, Kindern und Jugendlichen elementare Kenntnisse und Fähigkeiten in Mathematik und Deutsch nachhaltig zu vermitteln. Dabei brauchen immer mehr von ihnen individuelle Betreuung. Sozialstatus und Schulerfolg bleiben unheilvoll miteinander verknüpft. Stabilisierende und zukunftsweisende Investitionen ins Schulsystem sind flächendeckend nicht in Sicht. Im Vordergrund steht immer mehr die gar nicht so banale Frage, wie unsere Gesellschaft insgesamt die kommenden Wintermonate verkraftet.

Etliche Stimmen in der bildungspolitischen Landschaft setzen in dieser Lage auf Digitalisierung. Zukunftsforscher eröffnen einem staunenden pädagogischen Publikum, dass und wie wir uns in Zukunft an die technische und gesellschaftliche Entwicklung anzupassen hätten – alternativlos, versteht sich. Andere setzen auf den Umbau herkömmlicher Schulstrukturen zugunsten von offenen Lernlandschaften, auf die Auflösung der Klassenverbände, auf möglichst viel Freiarbeit und den Rückzug der Lehrkraft in die Rolle des Lernbegleiters. Beide Ansätze lassen sich auch kombinieren, und man fragt sich, welche Komponente bei dieser Mischung aus Sparzwang, Technikgläubigkeit und Reformidealismus die Oberhand behalten wird. Bei Hartmut Rosa jedenfalls finden sich deutliche Bedenken gegen die Reduzierung der Weltbeziehung auf den verengten Resonanzkanal des Bildschirms und gegen den Verzicht auf die inspirierende und impulsgebende Rolle der Lehrkraft. Und kann und darf Musikunterricht verzichten auf persönliche Anleitung, auf das Erlebnis der musizierenden Gruppe, auf Erfahrungen mit allen Sinnen, auf die Leiblichkeit des Sprechens, Singens und Musizierens?

Das Fach Musik wird sich im Schulsystem neu verorten müssen. Es braucht ein Denken und Handeln mit doppeltem Boden. Nicht Streichorches­ter statt Perkussionsensemble oder umgekehrt – sondern beides, je nach Situation. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch oder Je-nachdem. Was wächst und gedeiht, soll man erhalten. Aber wo nichts mehr wächst, muss man neu säen, sich neu erfinden. Das ist eine große Herausforderung, aber eine sinnvolle. Nach dem Bundeskongress in Hannover 2018 habe ich in dieser Zeitung geschrieben: „Es scheint an der Zeit, in der gesellschaftlichen Diskussion nicht nur die Defizite des Faches zu benennen, sondern auch seine Chancen. Oder – in den Worten eines Diskussionsteilnehmers – eine Vision zu entwickeln.“ Das gilt immer noch und erst recht.

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