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„Die drei Tode des Narziss“ in Stuttgart. Foto: Musikhochschule Stuttgart
„Die drei Tode des Narziss“ in Stuttgart. Foto: Musikhochschule Stuttgart
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Experimente mit Zukunftspotenzial: das Stuttgarter Studio für Stimmkunst und Neues Musiktheater präsentiert sich mit „Die drei Tode des Narziss“

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Das Stuttgarter Wilhelmspalais, in dessen Hallen seit dem Auszug der Stadtbücherei und bis zur Eröffnung des geplanten Stadtmuseums gähnende Leere herrscht, war jetzt für ein paar Tage Ort für musikalische Experimente: Unter dem Titel „Die drei Tode des Narziss“ erarbeiteten Studierende der Stuttgarter Musikhochschule und ihre Lehrer ein aufwendiges, gut zweistündiges Musiktheaterprojekt, das fünf Miniopern unterschiedlicher Kompositionsstudenten szenisch zur Uraufführung brachte.

„Die drei Tode des Narziss“ ist die erste große Produktion des Studios für Stimmkunst und Neues Musiktheater, das an der Musikhochschule in diesem Jahr neu gegründet wurde. Studierende sollen hier zukünftig die Möglichkeit haben, sich intensiv auf die komplexen Anforderungen aktuell komponierter Musiktheaterwerke vorzubereiten: Sänger sollen moderne Stimm- und Darstellungstechniken beherrschen lernen, Instrumentalisten sich auch sprechend und darstellend in komplizierte musikalische Strukturen einfügen können, Kompositionsstudierende haben die Möglichkeit intensiver Beschäftigung mit dem Musiktheater. Geplant sind zwar auch Kooperationen mit anderen Stuttgarter Kulturinstitutionen, doch die Vernetzung, die Zusammenarbeit und der Austausch innerhalb der Hochschule haben oberste Priorität: Pro Jahr ist eine große Musiktheaterproduktion geplant, an der Studierende und Dozenten quer durch alle Fakultäten mitarbeiten. Eine lobenswerte Ergänzung im Studienangebot der Stuttgarter Musikhochschule, die in Sachen Neuer Musik bestens aufgestellt ist. Unter anderem wurde hier vor fünf Jahren die deutschlandweit einzige Professur für Neue Vokalmusik eingerichtet, die Angelika Luz innehat, die auch das neue Studio leitet.

Die erste Produktion der neuen Hochschuleinrichtung – in Szene gesetzt zwischen Betonsäulen und verglastem Treppenhaus eines ehemaligen Lesesaals – kann sich sehen lassen. Zwei Menschen in Schutzanzügen und Gasmasken, die in choreographierten Schreitbewegungen das minimalistische Bühnenbild aus schwarzem Schotter mit Sprühapparat oder Besen für das nächste Stück vorbereiten, ist eine der trefflichen Ideen, mit denen Regisseur Bernd Schmitt die völlig unterschiedlichen Werke verbindet.

Das vorab gestellte „Narziss“-Arbeitsthema fassten die fünf Kompositionsstudenten, deren 20-Minüter an diesem Abend zur Uraufführung kommen, zum Teil sehr weit. Es geht in dem Mythos ja nicht nur um Eitelkeit und Selbstbespiegelung, sondern auch um die Geburt des Narziss aus dem Akt der Gewalt. Narziss ist nach Ovid die Frucht einer Vergewaltigung, deshalb für sein weiteres Leben traumatisiert.

Einzig die Chinesin Enen Song widmete sich dem Mythos aber wörtlich: „Narziss und Echo“ für je vier Stimmen und Instrumente befasst sich mit der Begegnung des schönen Narziss mit der Nymphe Echo, der die Sprache genommen wurde und die vom berührungsphobischen Narziss brüsk zurückgewiesen wird. Song komponierte eine zerbrechliche, taktstrichlose Partitur, die die Kommunikationsunfähigkeit der Protagonisten in starke, hörsogbildende musikalische Gesten fasst. Instrumentalisten und Sänger reagieren in echoartigen Klangwirkungen aufeinander. Bratsche, Cello, Flöte sind als Fabelwesen und Narziss-Spiegelbild ins szenische Spiel eingebunden und erweitern so den Raumklang, derweil die Gesangsstudenten Alessia Park (Echo) und Hitoshi Tamada (Narziss) – wie alle Sängerinnen und Sänger darstellerisch und stimmlich hervorragend vorbereitet – das furchtbare Drama um Sprachlosigkeit und Tod mit erschütternder Intensität und hartem körperlichem Einsatz fassbar machen.

Neue musikdramatische Ausdrucksformen zu erforschen, ist eines der Ziele des neuen Studios. Und auch in dieser Hinsicht bot der Abend neben seiner erfreulich hohen Professionalität eine beeindruckende Vielfalt. In Neil Thomas Smiths „Passive/Aggressive“ geht es um einen zu blutigen Nasen führenden Dialog zwischen Zwillingsschwestern. Smiths Musik funktioniert noch nach den traditionellen Gesetzen der Gesangskunst und des dramaturgischen Aufbaus. Und das Orchester, dirigiert von Christof M Löser, dem ambitionierten musikalischen Leiter des Abends, erscheint noch als Klangkörper im besten Sinne.

Dagegen verfremdet Remmy Canedo Stimmen und Instrumente durch massiv eingesetzte Live-Elektronik, die seiner Vertonung der autobiographischen Erzählung „Dunkler Frühling“ von Unica Zürn – entsprechend deren Suizid-Thematik und Gewaltfantasien – unheimliche, finstere, abgründige Klanglichkeit verleiht. Textfragmente der Geschichte werden von fünf Stimmen vorwiegend gesprochen, der Ausdruck läuft über die Elektronik, die Protagonistin ist eine stumme Rolle.

Auch Malte Giesen setzte auf elektronische Klangverfremdung. In „Unicorn“, in dem vier roboterartige Wesen eine Nonsens-Unterhaltung führen, ließ er sich vom Computerprogramm „Cleverbot“ inspirieren, das durch Kommunikation mit Menschen erlernt, deren Unterhaltungen nachzuahmen.

Koka Nikoladzes Vertonung von Franz Kafkas Türhüterparabel „Vor dem Gesetz“ schließlich geht lustvoll der Sprachzertrümmerung bis in die Atome nach, und doch formt sich alles wie durch ein Wunder wieder zu etwas Ganzem, das neuen Sinn ergibt – nach Enen Songs „Narziss und Echo“ wohl das stärkste Stück des Abends.

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