„Der Blick des Anderen“: Die Sehnsucht, durch Musiktheater jenen Perspektivwechsel zu erfahren, den Biennale-Leiter Peter Ruzicka als Motto der vier Uraufführungen dieses Jahrgangs destilliert hatte, erfüllt sich bis zuletzt nicht. Lin Wangs „Die Quelle“ löst zwar im positiven Sinn „Befremden“ aus, bleibt gleichzeitig aber so hermetisch in der verrätselten Sprache der chinesischen Dichterin Can Xue befangen, dass diese Fremdheit nicht in eine sinnliche Qualität umschlagen kann.
Möglich, dass die englische Übersetzung des auf einer Erzählung Can Xues beruhenden Librettos der poetischen Kraft abträglich ist, die an den Texten der Chinesin gerühmt wird; möglich auch, dass Andreas Bodes minimalistische Inszenierung in ihrer vollständigen Missachtung der Spiel- und Projektionsanweisungen der Komponistin dem Werk keinen guten Dienst erwiesen hat. Was hier herauszulesen ist, hätte vielleicht in der Überlagerung von alltäglichen Szenen durch die surreale Selbstfindung der Protagonistin eine gewisse Theatralität entfalten können.
So beobachtete man erstaunt bis amüsiert, wie in den perspektivisch schön zusammengestückelten Bühnenkästen (David Schnell) die Büroangestellte Jian Yi mit rätselhaft personalisierten Facetten ihrer Selbst in einen kommunikativ ins Leere laufenden Dialog tritt. Dass Holzfäller und Fleischer, die alte Vermieterin und eine weißgewandete Frau sowie Löwe, Frosch und ein leibhaftiges Telefon jeweils von ein und denselben Sängern bzw. Schauspielern verkörpert werden, trägt ebenfalls nicht zur Verdeutlichung der Symbolsprache bei. Die Erkrankung Steffi Lehmanns, die ihren Part zwar spielte, aber gesanglich von Nadine Lehner (bravourös) am Bühnenrand gedoubelt werden musste, tat ein Übriges.
Am Ende darf Jian Yi, deren Suche nach den Wurzeln ihrer Persönlichkeit Züge einer künstlerischen Selbstvergewisserung trägt, das Haus ganz übernehmen, in dem sie anfangs als Mieterin nur leidlich geduldet wird. Vielleicht kann die Quelle, die dort im Untergrund sprudelt, nun ihre erneuernde Wirkung entfalten.
Lin Wangs Musik versucht wie so häufig den Brückenschlag zwischen traditionellen Elementen ihrer Heimat und westlichen Neue-Musik-Standards. Das ergibt im Aufeinandertreffen des hauptsächlich aus Gästen zusammengesetzten Münchener Kammerorchesters (unter Alexander Liebreich) mit Mundorgel, Wölbbrettzither und chinesischer Laute aparte, fein ausbalancierte Klangmischungen. Eine improvisatorische Einlage als Bühnenmusik (Wu Wei und Xu Fengxia) offenbart überdies das dezente Groove-Potenzial des fernöstlichen Instrumentariums, die Überformung der englischen Gesangstexte mit den Eigenheiten chinesischer Sprachmelodie schaffen eine zusätzliche Distanz zur kryptischen Nicht-Handlung.
Über die knappen eineinhalb Stunden des Abends trägt der diskrete Charme dieser zu keinem Zeitpunkt weltmusikalisch auftrumpfenden Musik aber nicht. Man kann förmlich zusehen, wie die exotischen Farbpigmente verblassen und am Ende nicht mehr übrig bleibt als eine vage Ahnung, mal etwas „Anderes“ gehört zu haben. Was zu wenig ist für ein Festival, das den Anspruch erhebt, Quelle der Erneuerung für das Musiktheater zu sein.