Es gibt wohl in der Dialektik des Regietheaters kaum eine klaffendere Diskrepanz als die zwischen dem strahlenden C-Dur-Jubel am Ende von Richard Wagners „Meistersinger“-Partitur und der szenischen Version seiner Urenkelin bei den Bayreuther Festspielen, mit dem als bedrohliche Schreckfigur im gefährlichen Dunkel stehenden, von grässlichen Monumentalbüsten á la Breker eingerahmten Sachs. Der auf den Schlussakkord postwendend einsetzende Buh-Sturm wurde nur noch gesteigert, als Katharina Wagner mit ihrem Bühnenbildner Tilo Steffens alleine vor den Vorhang trat.
Katharina Wagners politisierende Deutung mit Bezug auf Wagners zeitgleich verfasste Zweitfassung des Pamphlets „Das Judentum in der Musik“, wandelt Beckmesser zum Künstler der Moderne, der mit seiner Festwiesen-Aktion aus Lehm einen neuen Adam erschafft, – analog dem „Golem“ und dem Versuch des Hinkenden Wanderers in Siegfried Wagners „Der Schmied von Marienburg“. Mit einer seinem neuen Menschen aus dem Publikum zugesellten, entkleidet als Eva definierten Partnerin sorgt Beckmesser in der Bühnenhandlung für Skandal, wohingegen Walther von Stolzing mit mittelalterlich gewandeten Pantomimen und alten Kulissen, dem Fest(spiel) einen angepassten Erfolg beschert.
Die Verfremdung in dieser Inszenierung basiert auf dem optischen Austausch von Sanges- und Dichtkunst durch bildende Kunst, wobei das Wort des Reclam-Textheftes (wie für manche notenunkundige Regisseure!) optisch die höchste Instanz des Lehrkörpers einer Kunstakademie (der Meister) bildet. Richard Wagners mit seinem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ verknüpfte Idee, dass die Kunst anstelle der Religion trete, wird auch in dieser „Meistersinger“-Version blasphemisch ins Bild gesetzt, etwa wenn die Feinde der Moderne einen aus dem vernichteten Gut gewonnenen goldenen Platzhirsch (Gewinn beim Sängerwettstreit und zugleich Logo dieser Produktion) kniend und mit gefalteten Händen anbeten. Wenn Kothner im ersten Aufzug die Tabulatur des Meistergesanges verliest, so gibt es dazu nun keine verstörend-erklärende Projektionen mehr, sondern die Meister vollziehen eine Kommunion mit Seiten aus dem Reclam, die sie sich reihum wie Hostien in den Mund stecken; danach küssen sie, jeweils zu zweit, das gelbe Textheft. Auch die Aktionen des Kunst-Revoluzzers Stolzing, der alles, was er zu greifen bekommt, verändert, wurden modifiziert und ergänzt: Stolzings Kunstwerken gemeinsam ist nun das Urmotiv Auge, aber er gestaltet auch eine Plastik aus Büste, Stuhlbeinen, Leiter und Staubsauger.
Lässt man sich auf ihre Sichtweise ein, so gelingt der Regisseurin mit der Wandlung des Revoluzzers Stolzing in den angepassten Künstler (Verzicht auf die überlange Haarpracht und Wahl eines schwarzen Anzugs) und insbesondere die von ihm motivierte Verwandlung seiner Kunstbraut Eva in ein Kanzlerinnen-Outfit, ein starker Moment, der nahegeht und nachdenklich macht. Immerhin lässt die Regisseurin Stolzing einen letzten Rest von Individualität, wenn er, nach der Überreichung der Siegesprämie in Form eines Schecks, den Platzhirsch (die Meisterwürde) ablehnt und fortgeht.
Weitere Modifikationen erfuhr die Inszenierung in diesem Sommer durch die Neubesetzung des Hans Sachs mit dem britischen Bariton James Rutherford, der – im Gegensatz zum kettenrauchenden Erstgestalter – offenbar Nichtraucher ist. Dem Duft des (unsichtbaren) Flieders gibt er den Vorzug gegenüber der eben angesteckten Zigarette, und das Entzünden eines zweiten Glimmstengels verhindert Eva, konform zu dem soeben in Bayern in Kraft getretenen strikten Rauchverbot; im dritten Aufzug hat Sachs das Rauchen aufgegeben. Aber ohne den ständigen Griff zur Zigarette verliert die Figur des barfüßig hemdsärmeligen Existenzialisten an Profil, zumal keine andere Sucht oder Gewohnheit an diese Stelle tritt. Dem Schreibmaschine tippenden statt schusternden Poeten bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich im dritten Aufzug auch in einen angepassten Anzugträger zu verwandeln.
Rutherford verkörpert diese Partie sehr jugendlich und mit klarer Diktion, allerdings wünschte man sich für Hans Sachs mehr Volumen und klangliche Facetten. Die bietet Adrian Eröd als Beckmesser mit bisweilen tenoralem Timbre und erntet dafür heftigen Beifall, überboten nur noch von der Publikumsgunst für den allzu hellen und leichten, aber überzeugend agierenden und gut aussehenden Tenor Klaus Florian Vogt als Stolzing. Vergleichsweise heldische Töne hat Norbert Ernst für die Buffopartie des Lehrbuben David. Michaela Kaune als Eva schafft die wenigen, emotional tiefgehenden Momente in dieser Inszenierung, obgleich auch sie – wie die schläfrige Magdalene Carola Guber und die lustlosen no-future-Lehrbuben – als betont langweilige Trine gezeichnet ist. Mehr Rollenprofil, im Sinne einer komischen Oper, gewährt die Regie Markus Eiche als Vereinsmeier Kothner und Artur Korn als Veit Pogner.
Sebastian Weigle vermag dem Orchesterklang unter dem Schalldeckel nun deutlich hellere Farben abzugewinnen, mit dynamisch wiederholt zurückgenommenen Staffelungen im Vorspiel als eione mehr nachdenkliche, verhaltene Feier, und dann durchaus kongruent zur szenischen Lesart. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor ist klangvoll präsent, selbst wenn er in der Eröffnungsszene backstage und im dritten Aufzug hinter einer Gardine oder aus dem Dunkel tönt.
Der zunehmende Unmut des Publikums über die Deutung erstreckte sich nicht auf jene Künstler, die diese szenisch und musikalisch tragen, auf die Sängerdarsteller, den Chorleiter und den Dirigenten.