Hans Werner Henzes jüngste Oper „Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ ist binnen kurzer Zeit gleich zweimal uraufgeführt worden. Kein Ding der Unmöglichkeit. Am 25. September kam das gemeinsame Auftragswerk der Kulturhauptstadt Europa Ruhr.2010 und der Sächsischen Staatsoper Dresden in der einstigen Maschinenhalle Gladbeck heraus nmz Online vom 27.8.2010. Dort war sie Bestandteil eines großen Henze-Porträts zur Ruhrtriennale. Knapp zwei Monate später hat nun die Semperoper nachgelegt. Anderes Ambiente, anderes Inszenierungsteam, andere Ausführende – und anderes Notenmaterial. Henze hat noch nach der Generalprobe an seiner Dresdner Fassung gearbeitet. Insofern dürfte zu Recht von einer zweiten Uraufführung die Rede sein.
Der Name Gisela als Operntitel scheint ungewöhnlich. Doch Henze nimmt seinen Kritikern sofort den Wind aus allen Segeln und verweist etwa auf „Giselle“ und sowieso auf den Nebentitel „Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“. Um diese nämlich geht es. Aber wer ist Gisela?
Dieses Stück Musiktheater, gemeinsam von Hans Werner Henze mit seinen Librettisten Michael Kerstan und Christian Lehnert verfasst, legt eine ganze Menge Spuren, die sogleich wieder verwischt und überlagert werden. Gisela ist eine Studentin der Kunstgeschichte mit ausgeprägter Italien-Sehnsucht – schon hier wäre an Ingeborg Bachmann zu denken. Giselas Nachname ist Geldmeier – der von Henzes Mutter war Geldmacher – und sie kommt aus Oberhausen. Henze wurde bekanntlich 1926 in Gütersloh geboren und hat die Nähe zum Ruhrpott wohl nie vergessen. Auch wenn er seit 1953 in Italien lebt, wo er, inzwischen in Marino nahe von Rom, längst heimisch geworden ist.
Ob das seiner Gisela je gelänge, bleibt offen, zunächst einmal kommt sie mit ihrem Verlobten – der nicht etwa Hans Werner, sondern Hanspeter heißt – in Neapel an und scheint glücklich. Hanspeter studiert Vulkanologie – ein Verweis auf deutsche Tiefgründigkeit? – und will Gisela am Golf mit seinen Eheabsichten beglücken. Doch dazu wird es nicht kommen, denn die schwärmerische Freundin ist da schon dem Fremden(ver-)führer Gennaro Esposito verfallen, der nach dem neapolitanischen Schutzpatron (und dem Januar als allem Anfang?) benannt worden ist und zudem auf die Tradition der „Ausgesetzten“ (esposto, lat. exponere) verweist.
Eine klassische Dreiecksgeschichte also? Die junge Frau zwischen zwei Männern, Menschen mit ihnen teilweise noch unbekannten Sehnsüchten ins Fremde, ins Offene? Oder nicht doch auch die Lebensgeschichte des Komponisten, die nun im Dreieck Marino – Gladbeck – Dresden kulminiert?
Nicht nur die vom gesungenen Wort erklärte Handlung lässt diesen Schluss zu, auch die Musik bewegt sich zwischen Bach-Bearbeitung, Selbst-Zitat und altersverklärtem, nein: altmeisterlichen Neu-Ansatz. Als würde dieser zeitlebens so ungemein produktive Komponist seine eigenen merk- und denkwürdigen Wege vom Glück noch einmal nachzeichnen und eben doch gleich wieder auflösen wollen. Auf dass nur ja nichts eindeutig deutbar sein sollte! Auch Gisela schlägt sich zum Schluss weder in den deutschen Ehehafen noch in die Fänge des Latin Lover. Es scheint, diese Konfrontation mit Sehnsucht, Verlockung und Fremdheit habe sie emanzipiert. Sie wird sich aufmachen, das Glück zu suchen.
Überall Sehnsucht: Vom Bahnhof zum Flughafen
Regisseurin Elisabeth Stöppler hat dazu mit ihrer Bühnenbildnerin Rebecca Ringst schöne Ideen und Bilder gefunden. Dresdens Semperoper wird so konsequent es eben geht in ein Flughafengebäude verwandelt. Der Einlass trägt die Mützen von Stewards, die Damen an Garderoben und Saaltüren sind aparte Stewardessen. Zu den Anfangszeiten erklingen Lautsprecherdurchsagen, logisch. Die Bühne ist dann eine riesige Abfertigungshalle, hinter der per Videoprojektion tatsächlich das Treiben eines Flugfeld abgelichtet wird. Das hat Sinn und verschafft der knapp anderthalbstündigen Oper zusätzlich Dynamik. Doch auch die Poesie kommt nicht zu kurz, eine tolle Artistengruppe wirbelt farbenreich (Kostüme: Frank Lichtenberg) das touristische Teutonengeschehen auf und bespielt die geschäftig kalte Werbewelt mit Witz und Zauber. Dem erliegen die Reisenden, insbesondere natürlich Gisela und Hanspeter.
Hintergründige Traumszenen sind es, die den eigentlichen Bezug zur Realität wiederherstellen, denn Gisela bangt um die Beständigkeit ihres Glücksgefühls. Stimmungsvolle Videoeinblendungen zeigen sie mit Gennaro in glucksender Eintracht, die ausgerechnet in der musealen Industrielandschaft von Ferropolis entstanden ist und wohl einen sichtbaren Bezug zum Kohlerevier darstellen soll.
Nadja Mchantaf und Giorgio Berrugi, beide noch ziemlich neu im Dresdner Ensemble, spielen diese Szenen des distanzierten Miteinander lebensfrisch juvenil, der gehörnte Vulkanologe Hanspeter wird von Markus Butter so ernsthaft wie erbittert gegeben. Der vitale Sopran von Mchantaf macht die Verliebtheit der beiden Männer nur noch glaubwürdiger, ihr flogen verdientermaßen auch die Herzen des Publikums zu. Butter gibt seinem Gesang mal deklamatorische, mal völlig verzweifelte Töne und bleibt in jedem Part überzeugend. Berrugi aber ist ein Haudegen und Herzensbrecher, der kokett mit den dunklen Augen spricht und dazu seinen Tenor quellen lässt, dass nicht nur die Kunstgeschichtsstudentin aus Oberhausen hin und weg ist. Dieser Frau widerstehen zu wollen, wäre sowieso eine entbehrliche, ja eine unverzeihliche Tat.
Was diese und die weiteren Solisten sowie der Chor der Semperoper und die Staatskapelle für diesen jüngsten Henze da geleistet haben, ist – zumal angesichts der Korrekturen bis zum Schluss – nahezu phänomenal. Unter der musikalischen Leitung von Erik Nielsen gelang eine überzeugende Uraufführung der Dresdner „Gisela!“-Fassung, der junge Amerikaner aus Frankfurt am Main hat dieses dienstälteste deutsche Orchester zu exzellenten Leistungen im Dienste des Neuen anzufeuern vermocht.
Weitere Termine: 27.,28.11., 4.12.2010