Hugo von Hofmannsthal wusste, wovon er sprach, als er Richard Strauss davor warnte, bei der Komposition der „Frau ohne Schatten“ die Titelfigur, die Kaiserin, aus den Augen zu verlieren: „…sonst wird der dritte Akt unmöglich…“ Diese Warnung war man geneigt, auch Regisseur Krzysztof Warlikowski zuzurufen, und doch geriet diese Münchner Jubiläumspremiere zu einem Triumph.
Wie wohl beim Komponisten selbst, schien sich über weite Strecken auch bei Warlikowski das Interesse vor allem am Färberpaar zu entzünden. Mit empathischer Detailgenauigkeit führt er eine Ehe vor, in der die Kinderlosigkeit nur äußeres Symbol einer tief sitzenden Entfremdung ist, in der aber gleichwohl noch die Möglichkeit von Liebe wirksam ist. Das äußere Szenario für diesen Beziehungszustand ist die Wäscherei im Keller einer Einrichtung, die sich im zweiten Akt als Internat entpuppt.
Als die Kaiserin und ihre Amme sich in dieses Untergeschoss begeben, ist das aber noch nicht klar. Im kleinteilig weiß gekachelten Raum, der sich hinter der wie zwei riesige Flügeltüren aufklappenden Rückwandvertäfelung öffnet, ist zunächst nur jener schöne Jüngling zu sehen, den die Amme der Färberin als Lockvogel präsentiert, um ihr den Schatten als Zeichen ihrer Gebärfähigkeit abzukaufen.
Was hier und in der Folge in der Kaiserin vorgeht, warum in ihr der Entschluss reift, die Ehe dieser ihr so fremden und sie doch so berührenden Menschen nicht zu zerstören und auf den Schatten zu verzichten, vermag Regisseur Warlikowski nicht wirklich plausibel zu machen. Dabei suggeriert der Beginn – die Kaiserin sinkt von einer Spritze betäubt in den Schlaf –, wir befänden uns im Grunde das ganze Stück über in einem ihr Seelenleben wie ein Psychogramm aufschlüsselnden Traum. Der Prolog, eine lange Doppelprojektion aus Alain Resnais’ Filmklassiker „L’année dernière à Marienbad“, weist in eine ähnliche Richtung.
Die Bilder, die Warlikowski mit seinem Team (Bühne/Kostüme: Malgorzata Szczesniak, Licht: Felice Rose, Videos: Denis Guéguin, Kamil Polak) für diesen Psychotrip findet, sind durchaus eindrücklich: Kinder mit auf den Kaiser und das Jagdmotiv anspielenden Falkenköpfen, die Kaiserin als kleines Mädchen, die technisch brillanten Projektionen eines Waldfriedhofs und des Wassereinbruchs am Ende des zweiten Aktes – großes Überwältigungsopernkino.
Und doch bleiben diese Bilder hinter den überzeugenden, Hofmannsthals Libretto mit Freud, historischen Frauenfiguren, dem ersten Weltkrieg und anderen zeitgenössischen Motiven in Beziehung setzenden Programmheftanalysen zurück und würden einen wohl ziemlich kalt lassen, wäre da nicht ein mehr und mehr über sich hinauswachsendes Staatsorchester, ein wunderbarer Chor (Sören Eckhoff) und Kinderchor (Stellario Fagone), ein fabulöses Ensemble und ein den Strauss’schen Verzückungsapparat scheinbar mühelos in seine jeweilige dramaturgische Funktion bringendes Dirigat.
Es fällt schwer, für Kirill Petrenkos Einstand als Staatsopern-GMD von Superlativen Abstand zu nehmen, so zwingend ist die Kontrolle, die er über die trennscharf und dabei immer organisch zu neuen Aggregatzuständen sich verdichtenden Klangfarbenmischungen ausübt. Die Spannung, die er innerhalb einzelner Erzählabschnitte aufzubauen versteht, die Ruhe und Kraft, mit der er Höhepunkte ansteuert und wie selbstverständlich zur Entladung bringt, und die Übersicht, die er auch im aberwitzigsten Instrumentationsrausch behält, ist Ehrfurcht gebietend.
Nur selten läuft die Dynamik aus dem Ruder und erschwert es somit etwa Deborah Polaski als Amme, ihr präzises Parlando so hintergründig anzusetzen, wie sie es offenbar im Sinn hat. Dennoch bildet ihre Fähigkeit zu vokaler Charakterisierung und klar fokussierten Ausbrüchen den roten Faden des Abends, bei dem sie kaum einmal die Bühne verlässt. Stellvertretend für die vielen kleineren, ausgezeichnet gesungenen Rollen sei Sebastian Holecek als imposanter Geiserbote genannt, die Brüder Baraks sind mit Tim Kypers, Christian Rieger und Mathew Peña luxuriös besetzt.
Als Kaiser – mit ihm weiß die Regie leider gar nichts anzufangen – brilliert Johann Botha mit strahlender, nur bisweilen intonatorisch leicht verrutschter Höhe. Sein Bayreuther Ring-Kollege Wolfgang Koch gibt den Barak als warmherzigen, unter der rauen Oberfläche vielschichtigen und sensiblen Charakter, was er auch in Stimmfarben zu gestalten versteht. In den Hauptpartien übertrumpfen sich Elena Pankratova als förmlich verglühende Färberin und Adrianne Pieczonka als inwendig leuchtende Kaiserin gegenseitig in üppiger, aber nie scharf oder vibrierend ausfransender Sopranseligkeit.
So waren es auch Pieczonkas weich das Violinsolo ablösendes Piano und ihre bedingungslose Hingabe im Melodram, die den dritten Akt vor seiner „Unmöglichkeit“ bewahrten. Warlikowski schickt das Färberpaar hierzu zunächst ins Wartezimmer des Krankentrakts, wo die Kaiserin dann schließlich ihren Gatten sterbend auf dem OP-Tisch wiederfindet. Ihr alle und alles errettender Entsagungsentschluss mündet in eine fröhliche Großfamilenfete mit Sekt und Kindergeschenken. Die Kaiserin ist damit – das scheinen die Projektionen von Batman, Jesus, Gandhi, King Kong und Marilyn Monroe anzudeuten – endgültig im Allzu-Irdischen gelandet.
Dass sich mit diesem, angesichts der zuvor angestauten Unterbewusstseinsschwere etwas harmlosen Augenzwinkern der Kreis zum Anfang nicht wirklich schloss, schien das inzwischen völlig klangtrunkene Publikum nicht zu stören. Dementsprechend gab es viel Zustimmung für die Regie, gehörigen Enthusiasmus für die Sänger und einen selten gehörten Bravosturm für Petrenko, der die Münchner Melomanen anscheinend schon mit seinem ersten Handstreich erobert hat.