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„Pnima“ von Chaya Chernowin in Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
„Pnima“ von Chaya Chernowin in Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
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Jenseits der Sprache: Chaya Czernowins Kammeroper „Pnima ... Ins Innere“ an der Staatsoper Stuttgart

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Was ist Musik? Eine der vielen Antworten, die man auf diese Frage finden kann, ist: Musik fängt da an, wo die Sprache aufhört. Dass die Musik dort weitermachen kann, wo die Sprache versagt, ist in der Kammeroper „Pnima ... Ins Innere“ der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, welche jetzt an der Stuttgarter Staatsoper Premiere feierte, inhaltliches Programm.

Czernowin ließ sich für ihr Musiktheaterstück, das im Jahr 2000 bei der Münchner Biennale uraufgeführt wurde, vom ersten Teil des experimentellen Romans „Stichwort: Liebe“ von David Grossman inspirieren. Darin geht es um einen israelischen Jungen namens Momik, der in den 1950er-Jahren in einer Familie Überlebender des Holocausts aufwächst, die an ihren furchtbaren Erinnerungen körperlich und seelisch zu zerbrechen droht. Man ist nicht in der Lage, über das Erlebte zu reden. Das Kind ist dieser Sprachlosigkeit hilflos ausgeliefert, erstickt beinahe daran. Fast alle seine verzweifelten Kommunikationsversuche scheitern. Momik verkörpert die Erfahrungen der „zweiten Generation“ der Kinder überlebender Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes. Das Grauen des Holocausts wird aus seiner Sicht thematisiert. Die Eltern wollen ihren Nachwuchs durch das Schweigen über die Vergangenheit schützen. Doch ihre nicht verbalisierten Traumata ergreifen langsam Besitz vom Kind. In den vagen Andeutungen der Erwachsenen sucht es den Sinn, tastet sich langsam an die grausame Wahrheit heran.

Es geht in „Pnima“ aber eigentlich gar nicht um konkrete Begebenheiten oder eine bestimmte historische Situation: Ihr Werk sei kein Musiktheater über den Holocaust, betont die Komponistin immer wieder: „Viel grundsätzlicher handelt das Werk davon, wie wir mit traumatischen Erfahrungen umgehen.“ Konsequenterweise hat „Pnima“ deshalb keine Handlung, keine Dialoge, kein Libretto. Die Oper funktioniert ohne Sprache. Als eine Art vorwärts tastendes musikalisches Psychogramm, das nur aus Klängen, Geräuschen und Lauten besteht. In der Partitur gibt es keine szenischen Anweisungen, keine konkreten Personenangaben. Die vier singenden Protagonisten sind ein schwer traumatisierter alter Mann und ein irritiertes, fragendes Kind, beide multiple dargestellt durch je zwei Singstimmen. Eine hohe und eine tiefe männliche für den Alten, eine hohe und tiefe Frauenstimme für das Kind.

Es ist eine packende Musik, die einen gleich hineinzieht in ihren Sog: in eine Art musikalischen Bewusstseinsstrom. Die Komponistin bedient sich sämtlicher Klang-Vokabeln der Neuen Musik bis hin zum Geräusch und elektronischen Zuspielungen. Das Stuttgarter Staatsorchester versteht sich vorzüglich mit dem musikalischen Leiter Johannes Kalitzke: Die Streicher, Schlagzeuger und einige Soloinstrumente spinnen ein vibrierendes, detailreiches Netz aus flüsternden, jaulenden, surrenden Klängen, hochemotionaler, auffahrender Gesten, harten Schlägen, oft menschlich anmutenden Lauten, mal scharf konturiert, mal verebbend. Und immer wieder verstummt die Musik, fallen die Klänge auseinander, offenbart sich Zeit in geräuschlosem Ver-Streichen, herrscht plötzlich Stille, tödliches Schweigen.

Ein solch hochabstraktes Werk in Szene zu setzen, ist ein schwieriges Unterfangen. Aber in der Regisseurin Yona Kim hat Czernowin in Stuttgart eine kongeniale Partnerin gefunden, die die Schritte der Musik mitgeht. Kim hat gut hineingehört in die Partitur und eine feine, sensible Bilderwelt geschaffen, ohne allzu konkret zu werden. Die Bühne von Herbert Murauer ist ein Haus der Erinnerung voller Symbole, traumhaft verrätselt. Aus dem Klavier, unter dem Teppich, aus dem alten Schrank und einer Truhe brechen sie zu Beginn hervor: die Gestalten, die im weiteren Verlauf die Bühne bevölkern werden. Den vier Vokalsolisten hat Kim sechs Statisten zur Seite gestellt, die die Familie vervollständigen: Am Essenstisch stürzt man sich gierig auf das Essen und stopft es in sich hinein. Bild für den ungeheuren Überlebensdrang. Manisch wirkt das gemeinsame Kartenkloppen zu harten, statischen Klängen: Zwanghaft gesuchte Ablenkung. Man stopft sich gegenseitig das Maul mit faulem Brot. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Musikinstrumente als Symbole geistiger Nahrung werden bearbeitet, auseinandergenommen, verbunden, übereinandergestapelt und mit Klebestreifen in einen Kokon versponnen. Alles bedeutet etwas: aber es bleibt assoziativ wie im Traum. Etwa jene Szene, in der eine Gruppe Kinder, als Erwachsene verkleidet, eines davon in schwarzem Ledermantel, stumm die Szene beherrschen.

Das ist ohne Zweifel die Qualität der Inszenierung: Dass sie der Musik nicht in die Quere kommt und dennoch eine eigene Geschichte erzählt: Wie ein Trauma Besitz ergreift von einem Menschen, und wie dieser Mensch daran arbeitet, das Unverständliche, Unfassbare zu enträtseln.

Phänomenal Yuko Kakuta als Kind, das stets das Zentrum des Geschehens bleibt. Kakuta zieht auf allen Ebenen in Bann, wie sie versucht, den Großvater zum Sprechen zu bringen, in ihrer Verwirrung, ihrer Verzweifelung. Sie zeigt alle Facetten, die man einer Stimme abgewinnen kann, wenn man sich nicht in Worten artikulieren kann. Wenn sie etwa an den eigenen Lauten zu ersticken droht und dann ihr erwachsenes Pendant (Noa Frenkel) die gemeinte Gesangsphrase übernimmt. Grandios auch Countertenor Daniel Gloger als alter Mann, der beständig in bibbernd abgehackten Lauten ebenso wie in lautlosen Schreien seine schwer verletzte Seele entblößt, auf der Bühne herumirrt wie ein Geist und nur in seinem zweiten Ich (Andreas Fischer) „Normalität“ an den Tag legen kann.

Einmal wird das Bewusstsein in Richtung Konzentrationslager gelenkt, das atemloseste und doch stillste Bild der Inszenierung: Hundert Kinder, akurat in Reih und Glied stehend, stumm, unbeweglich, werden aus dem Bühnenboden hochgefahren. Vorne Kleiderberge. Dazu ein starrer, sich bis ins Unerträgliche steigernder, sandiger Elektrosound. Die Kinder werden wieder versenkt. Das Bild auf der Bühne sagt: Auschwitz, Rampe, Kleiderberge, Massenmord. Aber nur ganz sachte angedeutet.

Eine Lösung gibt es am Ende nicht. Düster bleibt es, alles in sich gefangen. Der Prolog war vielleicht der Lichtblick. Da spielten vor der Staatsoper die Kinder Fangen und Springseil und stürmten lachend die Sitzreihen der Staatsoper. Eine beruhigende und doch auch bedrückende Einsicht: Das Leben geht weiter. Geschehe, was wolle. Immer wieder.

Pnima … Ins Innere
Kammeroper in drei Teilen für 4 Vokalsolisten, 6 Instrumentalsolisten und Streichorchester von Chaya Czernowin
Musikalische Leitung: Johannes Kalitzke, Regie: Yona Kim, Bühne: Herbert Murauer, Kostüme: Katharina Weissenborn, Licht: Reinhard Traub, Klangregie: Dieter Fenchel, Mirella Kern, Dramaturgie: Angela Beuerle, Albrecht Puhlmann
Mit: Yuko Kakuta, Noa Frenkel, Daniel Gloger, Andreas Fischer, dem Staatsorchester Stuttgart, Statisten und Kindern aus Stuttgart und Umgebung

Termine 11.07. | 15.07. | 20.07. | 22.07.

Weitere Termine in 2010/11
05.10. | 09.10. | 12.10. | 16.10.

 

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