Zwei dünne diagonale weiße Linien kreuzen sich auf dem Theatervorhang, durch den hindurch sich das dunkle Grün einer abgeschiedenen ländlichen Welt ankündigt. Die terra incognita: viergeteilt. Der für die eher auf Dauerhaftigkeit hin angelegten Verbindungen zuständige Gott Amor – der komödiantisch begabte Dominique Visse – wurde, nachdem sich die Gaze hob, an der dicht mit Immergrün bewachsenen haushohen Wand aus bühnenhimmlischen Höhen auf einem kleinen Lastaufzug abgeseilt. Auf dem leeren, hermetisch begrenzten Spielfeld begegnete er seinem per Fahrrad eintreffenden Gegenspieler Cupido.
Katelijne Verbeke gibt den Repräsentanten der wechselhaften Begierden, der freien Liebe und Lust hemdsärmelig. Es dauert, bis sich aus acht Leuchtröhren ein Kubus konstituiert und eine Bühne auf der Bühne umreißt, in der die Binnengeschichten gezeigt werden. Im Hintergrund ist – unter dem diskreten Schriftzug Grand Amour – eine gläserne Schleuse als Nahtstelle zur Außenwelt zu erkennen. Sie wird erst kurz vor Schluss des Stücks benötigt. Muss also erst einmal warten. Wie die Zuschauer der Liebesintrigen, die vom namenlosen Vater eines namenlosen Prinzen angezettelten wurden, dann unter lebhafter Beteiligung von Amor und Cupido in Gang kommen.
Wer wäre – und gerade in Momenten des Wartens – nicht veranlasst, wenigstens gelegentlich über menschliche Beziehungen zu grübeln, im Allgemeinen wie bezogen auf die eigene Person? Man kommt nicht umhin, nachzudenken über das Crescendo von Herzensneigungen, das Sforzato der Begierden, über spannungsfördernde oder von der Endlichkeit der Gefühle kündende Generalpausen und schließlich auch über die Coda. Die Fragen nach dem Woher, Warum und dem rechten Wie der Liebe dürften so alt sein wie die Denkfähigkeit der Menschen. Sie stellen sich vorm Hintergrund der archetypischen Mechanismen des Körper- und Gefühlshaushalt allemal neu – und die Oper tut es mit der ihr eigenen Inbrunst.
Alle Liebe wird lebenspraktisch auf die Probe gestellt. Durch die zynische Versuchsanordnung des Schauspiels „La Dispute“ („Der Streit“) von Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux (1688–1763) freilich auf eine noch extremere Weise als durch das drama giocoso „Così fan tutte“ von Lorenzo da Ponte und Mozart. Marivaux bot 1744 mehr Varianten des Wechselverhaltens. „La Dislute“ führt ein Experiment mit extremen Voraussetzungen vor Augen, gerahmt von der Kontroverse um Beziehungstreue zwischen dem schon erwähnten Prinzen und seiner Herzensdame Hermiane. Bereits der Vater des Nachwuchsmonarchen hatte, als an seinem Hof über die rechten Formen und Bezugsgrößen der Liebe gestritten wurde, Kinder in zartem Alter von der übrigen Bevölkerung isolieren und getrennt voneinander von zwei kulturfernen schwarzen Dienern aufziehen lassen. Während bzw. nach ihrer Pubertät wurden vier dieser Zöglinge – wiederum in Abgeschiedenheit – aufeinander losgelassen.
Durch die Beobachtung dessen, was dann abgeht, sollte ermittelt werden, wer an der großen Entzweiung der Geschlechter die größere Schuld trägt – Männer oder Frauen: Églé, die durch den Wasserspiegel eines Bächleins sich ihrer Schönheit bewusst wird, erwacht mit Azor nach zunächst zaghafter Annährung, dann in einem Accelerando des Erkundungsdrangs hinterm erstbesten Gebüsch zur Liebesfähigkeit. Dann entwickelt sie gegenüber Adine, die verliebt in den kindischen Mesrin auftaucht, eine als „natürlich“ vorgeführte weibliche Rivalität. Der Zickenkrieg ist programmiert. Die beiden männlichen Wesen erkunden im Gegenzug ohne weiterreichende beziehungstechnische Folgen einen Ansatz gleichgeschlechtlicher Liebe (dieser führt immerhin zu einem Männertreueschwur), Alsbald beginn sich Azor für Adine zu interessieren beginnt – und Églé steht für die Freizeit- und Lebensgestaltung nurmehr Mesrin als Solopartner zu Verfügung. Der zweite Partnertausch ist perfekt.
Aus dem nicht ganz repräsentativen Menschenversuch des Schauspiels und mit Motiven anderer Marivaux-Texte wurde für die Oper in Brüssel das Libretto für eine neue Oper geschneidert. Die Vorlage wurde dadurch nach zweieinhalb Jahrhunderten entschärft: Der bereits mit einer Rahmenhandlung vom Prinzen und seiner Verlobten versehene Handlungskern wurde nochmals gerahmt durch die Dispute zwischen Amor und Cupido, die in Liebesdingen bekanntlich konträre Anschauungen bzw. Interessen vertreten und auch das ausgewogene letzte Wort behalten. Vielleicht braucht es heute wieder solcher höherer Wattierung, um die Frivolität des frühen Rokoko staatsopernfähig zu machen.
Benoît Merniers neue Oper wirft zuvorderst die Frage auf, warum für sie ein Text der „Aufklärungs“-Ära recycelt, nicht eine modernere literarische Fundierung gesucht und gefunden wurde (in einer Zeit, in der Beziehungsanbahnung wohl nur noch im Sonderfall ohne elektronische Hilfsmittel, zu relevanten Teilen über den Internet-Markt erfolgt). Der Rückgriff mag einerseits dem Umstand geschuldet sein, dass die zur Textbearbeitung herangezogene Co-Regisseurin Ursel Herrmann zusammen mit ihrem Gatten, dem Bühnenausstatter Karl-Ernst Herrmann, seit fünf Jahrzehnten Bildmotive und Kostüm-Accessoires des 17. und 18. Jahrhunderts reaktiviert und womöglich mehr in Kategorien dieser versunkenen Epoche denkt als in denen unserer weit weniger „romantisch“ gestimmten Gegenwart. Andererseits wenden sich seit einiger Zeit ja auch einzelne Betreiber der „zeitgenössischen“ Musik in besonderer Weise wieder den Stoffen und Materialien früherer Epochen zu. Sie reagieren damit auf das Altern der Neuen Musik, das bald nach den provokanten Paukenschlägen vor hundert Jahren einsetzte, und beschleunigen einen Prozess der Historisierung.
Benoît Mernier (*1964 Bastogne, Belgien) brachte am Théâtre de la Monnaie vor fünf Jahren bereits Frühlings Erwachen heraus (frei nach Frank Wedekind). Der musikgeschichtlich beschlagene Dozent der Pädagogischen Hochschule Namur und Organist einer Brüsseler Kirche griff auf frühneuzeitliche Motetten und Madrigale ebenso zurück wie auf Toccata, Fuge und Ricercar, um „La Dispute“ musikalisch zu unterfüttern. Er „komponierte“ im wörtlichen Sinn: Er stellte zusammen. Dabei ist unerheblich, ob er sich einschlägige schöne Notenstellen aus dem Internet fischt, in seine Partitur einkopiert dann partiell überschreibt und verwebt, oder ob er noch auf altväterliche Weise mit einem Zettelkasten arbeitet und Stilkopien von Hand fertigt. In den besten Momenten gelingt ihm ein Tonsatz in impressionistisch lichten Farben und mit bemerkenswerter Lockerheit, auch Anklang an leichtfüßige Momente bei Richard Strauss. In Summe handelt es sich, trotz einiger eingesprengter Modernismen, um eine im Grundton nostalgische Musik, die sich programmatisch weigert, zentrale Errungenschaften der Moderne zu akzeptieren oder gar weiterzuentwickeln.
Und so kommt dann zusammen, was zusammengehören will: Die altneuen Schönschreibübungen des Tonsatzes mit den altgierigen Bildern und aktuell schicken Klamotten des Ehepaars Herrmann. Der Gedanke, dass wenigstens ein skeptischer Seitenblick auf das menschenverachtende Theatermodell mit den speziell und doch vergeblich herangezüchteten Kindern geworfen (und damit eine kritische Brechung herbeigeführt) werden müsste, scheint in Brüssel niemand in den Sinn gekommen. Der Wille, es ggf. auf abartige Weise ‚schön‘ zu machen, kennt in der scharfen Konkurrenz des Theatergeschäfts keine Hemmungen mehr. Das ist wahrhaft obszön –, nicht gelegentliches Urinieren, Kopulieren oder Masturbieren auf der Bühne (obwohl dies auch, liebe Betreiber eines neuen Bühnen-Naturalismus ebenfalls längst schon wieder langweilt).
Keineswegs gelangweilt haben bei der Premiere an der Place de la Monnaie die acht Solisten, deren Mikrophone unauffällig ausgesteuert wurden. Aus dem Versuchs-Team ragten neben Dominique Visse (Amor) Julie Mathevet mit luzidem Sopran als erblühende Schönheit Églé hervor. Gegenüber dem durch die Mezzosopranistin Albane Carrère, den Tenor Cyrille Dubois und den Bariton Gauillaume Andrieux komplettierten Quartett der Probanden, die sich „natürlich“ zu geben haben, profilierte sich das Hohe Paar. Stéphanie d’Oustrac und Stéphane Degout beim zerstrittenen Picknick zuzusehen, ist eine helle Freude. Er perfektioniert die Blasiertheit des noblen Herrn und gerät beim gleichzeitigen Tändeln mit der Standardpartnerin sowie gleichzeitig einer weiteren Dame in Stress. Sie verleiht Hermianes Rolle existentielle Ernsthaftigkeit. Nachdem die hochgewachsene und ggf. für Titelseiten von Illustrierten taugliche Mezzosopranistin D’Oustrac genug von dem ihr präsentierten Schauspiel im Leuchtröhrenkubus und von ihrem Prinzen hat, geht sie ab durch die Mitte, steigt in ein rotes Cabriolet und braust los. Nicht lange darauf ertönen die Martinshörner. Jaja, die Reichen und Schönen haben auch so ihre Sorgen. Es sind nicht unsere.