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Johannes-Passion aus der Thomaskirche Leipzig - 10.04.2020. Benedikt Kristjánsson (Tenor); Elina Albach (Cembalo); Philipp Lamprecht (Schlagwerk); Vocalquintett, Leitung: Gotthold Schwarz. Foto: MDR/Stephan Flad
Johannes-Passion aus der Thomaskirche Leipzig - 10.04.2020. Benedikt Kristjánsson (Tenor); Elina Albach (Cembalo); Philipp Lamprecht (Schlagwerk); Vocalquintett, Leitung: Gotthold Schwarz. Bild: MDR/Stephan Flad
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Mediales Ereignis und emotionale Größe: Bachs „Johannes-Passion“ aus der Thomaskirche Leipzig

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Die Johannes-Passion in außergewöhnlicher Form in außerordentlicher Zeit. Roland H. Dippel hat das gestreamt und meint: „Das wird Medien- und Kulturgeschichte schreiben, weil es verschiedene Sendeformate und Genres zur düster-monumentalen Hybridform vereinen konnte.“

Das Bachfest Leipzig ermöglichte in Bachs Thomaskirche eine aktive Teilnahme an einem einzigartigen Konzertprojekt: Am Karfreitag, dem 10. April, erklang zur Todesstunde Jesu (15.00 Uhr) eine kammermusikalische Fassung von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion an dessen Grab. Die globale Bach-Community war zum Mitsingen eingeladen. Die Übertragung erfolgte im Livestream auf dem Facebook-Channel des Bach-Archivs. MDR KULTUR und MDR KLASSIK übertrugen das Konzert im Video-Livestream, auf Facebook und zeitversetzt im Radio um 19 Uhr und um Mitternacht im MDR-Fernsehen. Prominente Musiker u. a. aus Malaysia, Kanada, den USA, Österreich und den Niederlanden wurden zugeschaltet. Die Aufführung wurde in Zusammenarbeit mit dem Mitteldeutschen Rundfunk realisiert und durch Spenden der Stiftung Chorherren zu St. Thomae und der Neuen Bachgesellschaft e. V. ermöglicht. (Pressetext des Bacharchivs)

Die alljährlichen Aufführungen der Johannes-Passion am Gründonnerstag in der Thomaskirche mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester gehören zu den Kalender-Fixpunkten der Musikstadt Leipzig und ihrer Gäste. Dabei ist der Aufführungsort weitaus mehr als die letzte Ruhestätte des Thomaskantors Johann Sebastian Bach: Die Messe- und Literaturstadt, ein Ort der Reformation, strahlt als „Hypezig“ seit der Wende in alle Bundesländer und gilt als energiegeladener, aussichtsreicher Bewerber um die Aufnahme in den Kreis der international wichtigsten Festspielorte.

Durch die traurige Gegenwart der Corona-Pandemie ist der etwas zähe Glanz, der Ereignisse wie die Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit dem Bundeskanzler*innen-Défilé und eben auch die Traditionskonzerte wie DIE Leipziger Johannes-Passion umspielt, jäh zerstoben. Aus einer voll besetzten Veranstaltung wird nicht einmal 100 Stunden nach Absage des Bachfests 2020 „We Are Family“ ohne den internationalen Zustrom eine intime Veranstaltung an Bachs Grab. Die Bedeutung des Wortes „teilen“ erweitert sich von ‚Partizipation‘ (dabei sein) um ‚share‘ (posten). Die physische Anwesenheit vor passionierten Anhängern in der Thomaskirche wird ersetzt durch das Wahrnehmen eines Ereignisses von intensiver Streukraft. Das wird Medien- und Kulturgeschichte schreiben, weil es verschiedene Sendeformate und Genres zur düster-monumentalen Hybridform vereinen konnte: Interaktion (Mitsingen der Choräle vor den Endgeräten), musikalische Videokonferenz (Bachfamilie-Promis und beste Nebenrollen in Zuschaltung), neuartiges Format (die 2019 als „Innovativstes Konzert des Jahres“ mit dem Opus-Klassik-Preis vom „Podium Esslingen“ ausgezeichnete Pocket-Version der „Johannes-Passion“).

Das ist nicht nur eine Steigerung, sondern könnte sogar eine Machbarkeitswende einleiten für Medien, die – oder genauer – durch einige der von ihnen wiedergegebenen Meinungen seit einigen Tagen ins Kreuzfeuer der Kritik an Empathie-Verlust, sozialer Kälte angesichts der Pandemie-Opfer und -Geschädigten bzw. an den Verschwörungstheorien über die internationale Corona-Streuung geraten: Zu erleben gab es ein Ereignis, das aufgrund von Erwartungshaltung und affektiver Dichte in keines der längst auch in der Klassischen Musik üblichen Rankings durch Topseller und Preisverleihungen oder der Jagd nach sportiver Perfektion in der historisch best-informierten Aufführungspraxis passen will.

Die Ausgangsbeschränkungen und internationalen Sicherheitsbestimmungen brachten dem in Berlin lebenden isländischen Tenor Benedikt Kristjánsson also das Debüt in der Thomaskirche auf dem Voraltar – und nicht auf der Mittelempore, wo das in der ursprünglich geplanten Konzertform groß besetzte Gewandhausorchester Bach mit einer der Spätromantik verpflichteten Souveränität musiziert hätte. Es ist unnötig, Kristjánsson sowie dem Schlagzeuger Philipp Lamprecht und der Cembalistin Elina Albach, die in ihrer Bearbeitung die Johannes-Passion von 125 auf 85 Minuten strafften und um die meisten Arien kürzten, für die Passionszeit in den kommenden Jahren einen vollen Terminkalender zu prophezeien. Bei offenen Grenzen hätte die Bachfest-Leitung möglicherweise eher ein kleines internationales Ensemble aus der Liga von Philippe Herreweghe gebeten.

Zwei Fakten sichern dem Konzert zur Todesstunde Jesu den nicht-materiellen, von sekundären Selbstzwecken fast zur Gänze freien und ideell glaubhaften Mehrwert. Zum einen waren die mitwirkenden Stars der Bachfamilie meist kürzer im Bild als die Suche nach ihrem Namen im als PDF zum Download gebotenen Programmheft dauerte. Zum anderen machte es durch das mitwirkende Vokalquintett aus den Leipziger Reihen von hochprofessionellen Bach-Interpreten die Spannweite zwischen korrekter Perfektion und aufrüttelnder Expression deutlich. Kristjánsson riskierte enorm viel vor der geschärft deutlichen Kamera, die mit akzentuierter Objektivität die weite Leere des Kirchenraums zu bedrückender Wirkung steigerten.

Am Karfreitag vor einem Jahr geriet Kristjánssons vokaler Alleingang in der Jakobskirche Weimar deshalb so berührend, weil zu den von den Hörern mitgesungenen Chorälen keine trennende Kluft bestand. Kristjánsson ist am besten, wenn er sich die rezitavische Prosa durch Wiederholungen und Tempo-Freiheiten geschmeidig macht, in den liedhaft-leidvollen Momenten der verbliebenen Arien aufgeht und in den gesprochenen, melodramatischen Anwandlungen zu von keinerlei Show-Impulsen gestützter Emotionalität findet. Diese Johannes-Passion im Pocket-Format, an deren Mega-Erfolg die Mitwirkenden vom Podium Esslingen wohl zuletzt selbst glaubten, gewinnt durch die schicksalhaften Fügungen von ursprünglichem Anlass, globaler Notsituation und rituell-künstlerischer Aura eine Dringlichkeit, die den aktuellen Verlust gesellschaftlicher Zusammenkünfte schmerzlich verdeutlicht. Als Manifest gegen mediale Kälte und durch eine Präsentationsform, die Vertrauen in Mitwirkende und Zuschauer an die Stelle suggestiver Geschwätzigkeit setzt, wird diese Johannes-Passion zum gewichtigen Signal. Weitere Streams aus Leipzig sind in Vorbereitung.


Johann Sebastian Bach (1685–1750): Johannes-Passion für Tenor, Cembalo, Orgel und Schlagwerk (eingerichtet nach BWV 245) – Benedikt Kristjánsson (Tenor), Elina Albach (Cembalo, Orgel), Philipp Lamprecht (Percussion). Eine Produktion von Podium Esslingen (Idee und Produktion: Steven Walter – Musikalische Bearbeitung: Philipp Lamprecht, Elina Albach, Benedikt Kristjánsson) – Motetten und Choräle: Isabel Meyer-Kalis, Julia Sophie Wagner (Sopran) – David Erler (Altus) – Wolfram Lattke (Tenor) – Bass (Thomaskantor Gotthold Schwarz) – Hartmut Becker (Violoncello) – Mechthild Winter (Orgel) – Zugespielte Choräle: Nr. 3: O große Lieb, o Lieb ohn alle Maße (Ottawa Bach Choir, Kanada) – Nr. 5: Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich (J. S. Bach-Stiftung Sankt Gallen, Schweiz) – Nr. 11: Wer hat dich so geschlagen (Mitglieder des Thomanerchors Leipzig, Deutschland) – Nr. 17: Ach großer König (Bachfest-Family-Chor: Miriam Feuersinger, Österreich – Reginald Mobley, USA – Martin Petzold, Deutschland – Klaus Mertens, Deutschland – Bachfest-Intendant Michael Maul, Deutschland – Rudolf Lutz, Schweiz – Ton Koopman, Niederlande) – Nr. 37: O hilf, Christe, Gottes Sohn (Malaysia Bach Festival Singers and Orchestra)

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