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1. Januar. Weltfriedenstag. (MH)

01. Januar. Weltfriedenstag. (MH)

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Musikalische Jahrestage (1) – 1. Januar – Weltfriedenstag

Vorspann / Teaser

Vom Frieden wird in diesen Tagen viel gesprochen. Bei vielen Menschen hat sich in den Weihnachtstagen in diesem Jahr vor die vertraute friedvolle Geburtsgeschichte in Bethlehem eine Schablone mit einem kriegerischen Bild davorgeschoben. Es herrscht Krieg, Menschen sterben, allzu Unmenschliches gewinnt an Oberhand – und doch feiern wir am 1. Januar 2024 den Weltfriedenstag. Ein kleiner (musikalischer) Blick versucht sich der jüdischen Sichtweise von Frieden (שלום) zu nähern.

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„Glaubt nicht, sie war ganz leise, die erste heilge Nacht. Die Könige auf der Reise, die haben Lärm gemacht. Kamele, Diener, Pferde, das stampft und klirrt von fern. Es dröhnt und bebt die Erde, sie folgen ihrem Herrn. Es blöken all die Schafe, vom Berge laut Gebell, als mitten in dem Schlafe das Licht erglänzt so hell. Da schrien die Hirten alle, kann keiner stumm mehr sein! Wir eilen bis zum Stalle, wir folgen nur dem Schein!“ So beschreibt ein modernes Weihnachtslied von Barbara Cratzius, das, was da einstmals in der Heiligen Nacht um den Stall in Bethlehem geschehen ist. Mit der Stille-Nacht-Heilige-Nacht-Atmosphäre, die wir aus Krippendarstellungen kennen, scheint das wenig zu tun zu haben.

Aber das ist noch lange nicht alles: „Und erst die Engelscharen! Wie rauscht ihr Flügelschlag! Und die Posaunen waren laut wie am jüngsten Tag. Dazu die hellen Chöre, die schwingen sich empor. O Bethlehem – so höre! Der Herr steht vor dem Tor! Da ist bei all dem Toben das Kind nun aufgewacht. Maria lächelt: „Loben und jubeln diese Nacht, sollt ihr! Wer kann da schweigen! So seht das Kind euch an! Gott gibt es euch zu eigen, daß es euch retten kann!“ Da ist ganz schön was los in dieser Nacht in Bethlehem. Trotzdem herrscht dort ein ganz besonderer Frieden!

Hören wir das Wort „Frieden“, so denken wir quasi ferngesteuert auch an das Gegenteil: „Krieg“. Frieden ist in unserer Vorstellung häufig einfach nur die Abwesenheit von Krieg. Im lateinischen Wort „pax“ ist dieses auch etymologisch nachvollziehbar – es ist verwandt mit dem Wort „pactum“. Pactum bezeichnet den Vertrag, den man schließt, um einen Krieg zu beenden, den Friedensvertrag. Neben manchen anderen Bedeutungen, die das Wort Frieden haben kann, ist diese, dass Frieden dasselbe ist wie Nicht-Krieg, aber die wohl am häufigsten verwendete.

Aus dem Hebräischen wird das Wort „schalom“ gern mit Frieden ins Deutsche übersetzt. Das ist zunächst einmal sicher auch nicht falsch. Schaut man in dem Standardwerk der hebräischen Sprache, „Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament“, unter dem Stichwort שלום (schalom) nach, so darf man erstaunt sein, dass die Übersetzung „Frieden“ dort in den immerhin drei Spalten des zugehörigen Artikels gar nicht vorkommt. Da ist von „Unversehrtheit“, „Heilsein“ und „Wohlbefinden“ die Rede. Darüber hinaus bezeichnet שלום das „ungestörte Verhältnis zwischen verschiedenen Personen“.

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1. Januar. Weltfriedenstag. (MH)

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Wollte man den hebräischen Friedensbegriff definieren, so würde das vielleicht in etwa so aussehen: Schalom (שלום) meint einen Zustand einer heilen, unversehrten Welt, in der keine Gefahr droht. Es meint ein Miteinander aller Geschöpfe, Glück und Gerechtigkeit für alle. Es meint inneren Frieden und Versöhnung mit sich selbst, den anderen und Gott. – So gesehen wird auch das in dem Weihnachtslied gemalte wuselige und laute Bild in Bethlehem zu einer Szene voller Frieden.

Zwei weitere musikalische Beispiele, die sich in gewisser Weise sehr ähnlich sind, sollen diese Art des hebräischen Friedensbegriffs noch einmal verdeutlichen: die jeweiligen Schlussszenen aus Arnold Schönbergs „A survivor from Warsaw“ (Ein Überlebender aus Warschau) und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ (Gespräche der Karmelitinnen).

In Schönbergs Werk beschreibt ein Erzähler, der Überlebende, die Niederschlagung des Aufstandes des Warschauer Ghettos. Er berichtet in englischer Sprache von dem menschenverachtenden Umgang mit den bereits entrechteten Juden. Der deutsche Feldwebel brüllt auf deutsch Befehle: „Achtung! Stilljestanden! Na wird’s mal. Oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen?“ Grelle Trompetenstöße, hektische Rhythmen. Dort, wo es ihm nicht schnell genug geht, werden wahllos Juden niedergeknüppelt und getötet. „Abzählen! Achtung! Rascher! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“ Im immer schneller und lauter werdenden Zählen stimmen die Juden plötzlich gemeinsam das „Schma Jisrael“ an und singen es.

Schma Jisrael

Das Schma Jisrael ist eine Art Glaubensbekenntnis und gehört zu den wichtigsten Gebeten im Judentum, die jeder Jude täglich sprechen muss. Der Einleitungssatz des Gebetes, wie es im 5. Buch Mose 6,4 aufgezeichnet ist, spiegelt jüdisches Selbstverständnis und die Stellung des Judentums als monotheistische Religion wider: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr“ (Übersetzung von Martin Luther). – Auch diese unvorstellbar grausame Szene bei Schönberg hat etwas von Frieden (שלום). Auch wenn auf Erden kein Friede herrscht, wenn irdische Vernichtung droht, dann erinnert man sich an seine religiösen Wurzeln und geht getrost und aufrecht in eine bessere Welt.

Salve Regina

Nicht viel anders (allerdings rein christlich) ist die Situation in Poulencs Dialogues des Carmélites. 1794 – die Wirren der französischen Revolution mit ihren Rufen nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ durchziehen das Land. Hinter den Klostermauern des Karmelitinnenklosters sind sie nur gedämpft zu hören. Als der Befehl der Auflösung des Klosters gegeben und den Priestern jegliche Ausübung ihres religiösen Amtes verboten wird, entscheiden sich die Karmeliterinnen dafür, das Märtyrergelübde abzulegen und damit die Priester und die Religion zu retten. Eine der Hauptfiguren, Blanche, flieht aus dem Kloster. Blanches Mitschwestern werden unter der Anklage der konterrevolutionären Aktivitäten ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt. Als die Karmelitinnen zum Schafott geführt werden, singen sie das „Salve Regina“: „Wohlan denn, unsere Fürsprecherin, deine barmherzigen Augen wende uns zu und nach diesem Elend zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes.“ Sobald die Stimme der letzten Karmelitin nach deren Exekution verstummt ist, nimmt Blanche, die ungesehen in der Menge stand, deren Gesang auf und folgt ihren Mitschwestern in den Tod.

Was tun, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Was tun, wenn alles, was gestern noch unvorstellbar war, plötzlich über uns hereinbricht? Wo kann man Halt finden in einer Welt, die gerade explodiert? – Diese existenziellen Fragen sind naturgemäß allgegenwärtig. Ihre Beantwortung obliegt uns ganz persönlich und kann je nach Person und Persönlichkeit sehr unterschiedlich ausfallen. Die deutsche Sprache kennt die Begriffe „seinen Frieden finden“ und „seinen Frieden machen“. Darin steckt sowohl ein „sich damit abfinden“ als auch ein „sich damit versöhnen“, wobei Letzteres der hebräischen Denkweise durchaus nahe steht.

Exkurs: Ein Chorleiter berichtete einmal von einem Besuch seines Chores in einem Heim für Menschen, die durch Drogenmissbrauch eine mentale Behinderung erlitten haben. Es war Herbst – und der Chor sang regelmäßig in Heimen und Krankenhäusern. Eine Pflegerin führte die Besucher in einen Gemeinschaftsraum im Souterrain, stellte den Chor vor und machte den Chorleiter auf eine ältere Frau aufmerksam, die schon seit über 10 Jahren nicht mehr gesprochen habe. Der Chorleiter meinte, dass er das an diesem Nachmittag ändern wolle – den mitleidigen Blick der Pflegerin mag man sich vorstellen. Der Chor sang einige Lieder, es wurde eine Geschichte vorgelesen und irgendwann setzte sich der Chorleiter zu der Frau auf die Lehen ihres Sessels, legte vorsichtig den Arm um ihre Schultern und schaute mit ihr aus dem Fenster in die herbstliche Landschaft. Er beschrieb ein wenig, was sie ja beide sahen und forderte die Frau auf, mit ihm ein Gedicht aufzusagen. Er begann: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand.“ Weiter kam er nicht, denn die „stumme“ Frau hatte bereits übernommen: „und kam die goldene Herbsteszeit und die Birnen leuchteten weit und breit ….“

Kulturelle DNS

Sogar der Chorleiter musste hinterher zugeben, dass das hätte schiefgehen können. Letztlich aber scheint es „Dinge“ zu geben (Musik, Gedichte, …), die tief in uns Menschen schlummern und nur einen Anstoß brauchen, um wieder hervorzubrechen. Das müssen – wie der Herr von Ribbeck zeigt – nicht unbedingt religiöse Gesänge und Gebete sein. Es sind wohl „Dinge“, mit denen wir mehr oder weniger intensiv aufgewachsen sind, die so etwas wie unsere kulturelle DNS sind – das Schma Jisrael ist DAS zentrale Gebet des Judentums, das Salve Regina ist zumindest einer der allerwichtigsten Gesänge im monastischen Leben. Sicher gehören im Christentum in diese Gruppe auch Gebete wie das Vaterunser oder der 23. Psalm (Der Herr ist mein Hirte, mit wird nichts mangeln). Gedichte haben die Älteren unter uns noch zuhauf gelernt. Immer wieder ist es eine Freude, mit einer älteren Gemeinde das Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ zu singen. „Natürlich“ können die älteren Leute alle 15 Strophen auswendig, selbstverständlich in der richtigen Reihenfolge. Welches werden die Gesänge der nächsten Generationen sein: „Theo, wir fahr‘n nach Lodz“, „Let it be“ oder „Funkel, funkel, kleiner Stern“?

Heil, Glück, Gerechtigkeit, innerlich oder äußerlich – Frieden hat viele Erscheinungsformen, die ganz tief in jedem Wesen und vielleicht auch in vielen Gruppen schlummern. Für die Musik hat es wohl Walt Whitman am treffendsten formuliert: „Die Musik, die große Verknüpferin, das Vergeistigtste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Göttin, aber doch ganz menschlich …. In einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts außer ihr zu geben vermag.“ Dem Frieden in jedem Fall kann sie dienlich sein – das haben wir gesehen. Unsere Friedensaufgabe muss es sein, diese „Dinge“ und ihren tiefen Wert an die uns folgenden Generationen weiterzugeben – denn auch sie werden sie eines Tages brauchen!

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Steintafel mit einer Darstellung einer Taube mit einem Ölzweig in den Domitilla-Katakomben in Rom (etwa 2. nachchristliches Jahrhundert). © Wikimedia Commons, Dnalor_01, Lizenz CC-BY-SA 3.0

Steintafel mit einer Darstellung einer Taube mit einem Ölzweig in den Domitilla-Katakomben in Rom (etwa 2. nachchristliches Jahrhundert). © Wikimedia Commons, Dnalor_01, Lizenz CC-BY-SA 3.0

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Ein blühendes Ölblatt

Exkurs: In der Geschichte von der Arche Noah und ihrem Kapitän Noah rottet Gott alles aus. Er sprach: „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.“ Das ist kein Krieg – der eine kämpft und der andere verteidigt sich. Der Sieger ist offen. Gott überschwemmt die Erde und löscht gnadenlos alles aus. Nur Noah und die Arche mit ihren Bewohnern überleben. Irgendwann schickt Noah eine Taube los, die unverrichteter Dinge zurückkommt. Bei ihrem zweiten Ausflug bringt sie ein Ölblatt mit. Man könnte die Taube also als so etwas wie einen einfachen (aber wichtigen) Kundschafter und Verkünder verstehen. Das Wichtigere aber ist das blühende Ölblatt. Es ist (bis heute) das Symbol für Frieden. Frieden – das ist hier das erneute Wachsen nach der Sintflut, das wieder Heilsein der Natur, die Wiedererrichtung eines alten (und doch neuen) Zustandes, die abermalige Übergabe der Erde an den Menschen, die Versöhnung zwischen Gott, den Menschen und der gesamten Schöpfung.

Seit 1968 wird in der römisch-katholischen Kirche der 1. Januar als Weltfriedenstag begangen. Nicht nur aus religiöser Sicht ergibt es durchaus Sinn, dem Neuen Jahr friedvolle Gedanken an den Anfang zu stellen, die die Menschen dann durch das Jahr begleiten können. Als weltliches Pendant hat die UNO den 21. September zum Weltfriedenstag proklamiert. Am 1. September wird nur in Deutschland der Antikriegstag begangen.

  • Im Jahr 2024 wollen wir hier bei nmz.de etwa 20 Feier-, Jahres- und Gedenktage vorstellen, die irgendetwas mit Musik zu tun haben (könnten). Feier-, Jahres- und Gedenktage sind kleine regelmäßige Rituale, die Strukturen ins Leben bringen. Dabei können diese Tage ernst oder heiter sein, manche sind historisch bedeutsam, andere nur skurril – der Internationale Kinderkrebstag (15. Februar) oder der Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober), der intergalaktische Handtuchtag (25. Mai) oder die mexikanische Nacht der Radieschen (23. Dezember). Seien Sie in der nmz neugierig auf den Tag der ausgefallenen Musikinstrumente in den USA, den Internationalen Tag der Gebärdensprachen oder den Welttag des Holzes und viele mehr!

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