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Feuerwerk an Aha-Effekten: Franceso Bearzattis und Giovanni Falzone vom „Tinissima“ Quartett. Foto: Stefan Pieper
Feuerwerk an Aha-Effekten: Franceso Bearzattis und Giovanni Falzone vom „Tinissima“ Quartett. Foto: Stefan Pieper
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Mut zur Verrücktheit: Ästhetik der Kontraste beim 24. Internationalen Jazzfestival Münster

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Thelonious Monks Geist schwebte über den Dingen beim Jazzfestival Münster. Der junge israelische Pianist Yaron Herman streifte dessen „Bemsha Swing“ auf seiner langen assoziativen Reise auf dem Flügel – und dann verwirbelte zum Schluss eine italienische Band sämtliche stilistische Ingredienzen, zerschlug Grenzziehungen. Das machen doch viele, das gehört doch dazu, kann man einwenden. Doch war Franceso Bearzattis „Tinissima“ Quartett neu, anders und vor allem – verrückt! So viel subversiver italienischer Humor definierte die Maßstäbe für Frische und Originalität zum Festivalabschluss noch einmal ganz neu.

Sie sehen aus wie Typen, denen man nachts nicht begegnen möchte. Und wie das Minimalschlagzeug lospoltert, könnte man direkt im Pulp Fiction Soundtrack gelandet sein. Wenn sie auf Rock 'n' Roll machen, dann bilden sie keine einschlägig bekannte Melodien ab, sondern rücken den Basslinien und Schlagzeuggrooves der Rock- und Pop-History zu Leibe. Ein solches Feuerwerk an Aha-Effekten rüttelte das Publikum wieder wach, nicht nur, wenn sich in Monks ewiges „Round Midnight“- Thema der Reggae von „Walking on the Moon“ von hinten rum einschleicht. Und diese Italiener inszenierten all dies schwindelerregend virtuos und mit grellem subversiven Charme.

In Zeiten, wo der Jazz immer wieder als Nischenkultur mit Nachwuchsproblemen bei seiner Hörerschaft verhandelt wird, braucht es mehr solche Bands, damit auch wieder Verrücktheit und damit auch gesellschaftliche Relevanz aufkommt. Übrigens stand ein Klo auf der Bühne, auf dem der Bassist meist drauf saß. Etwa für den Fall dass Berlusconi wiederkommt und man diesen am besten in den Abort entsorgt? Darauf deuteten zumindest die Anspielungen der Musiker zur Begrüßung.

Festivalleiter Fritz Schmücker hatte mit dem Programm fürs 24. Jazzfestival Münster einmal mehr auf die Pluralität der Klangwelten gesetzt und für eine entsprechend solide Mischung gesorgt. Da rockte der kolumbianische Harfenist Edmar Castaneda sehr verblüffend mit fetzigem Latinjazz das Haus und eroberte damit das Publikum im Sturm. Am folgenden Abend öffnete das Duo mit der Cellistin Asja Valcic und dem Akkordeon/Bandoneonspieler Klaus Paier sämtliche Ohren und Herzen, denn im feinnervigen Spiel auf stilistischer Grundlage von Musette, Tango oder auch mal einem Jazz-Waltz wird viel tiefe Leidenschaft ausgekostet. Valcic, die sonst vor allem im Radio String Quartett Vienna musiziert, ist eine unfassbar ausdrucksstarke Cellistin! Nicht nur, wenn sie mit perkussiver Wut den Cellobogen über die Saiten reißt, um laszive Tänze zu evozieren oder immer neue unter die Haut gehende melodische Geniestreiche freizusetzen. Das kann ihr Partner ebenso. Und beide wissen, sich selbstbewusst von zu viel Tradition zu emanzipieren.

Denn darum geht es: Aus vorhandenen Quellen schöpfen, aber damit etwas Eigenes schaffen. Und da sind wir wieder bei Yaron Herman. Er hörte in die Stille und in sein Inneres hinein, um ganz aus dieser Tiefe zu schöpfen. Stilistisch weitgespannt ist sein Bezugsrahmen – und er verweilte bei seinem Spiel auf dem knallroten Festival-Flügel ausgiebig in den unterschiedlichen Gefilden, zu denen romantische Lyrismen, avantgardistische bis minimalistische Klangimpressionen und immer wieder eine reflektierte Jazzidiomatik gehören. Er meidet rasche Schnitte zwischen solchen Gegenwelten, favorisiert stattdessen geschmeidige Metamorphosen, damit sein fantasiegesättigter und traumwandlerischer Fluss nie stillsteht.

Damit verglichen wirkte etwa die Band der israelischen Posaunistin Reut Regev reichlich konventionell. Zwar waren hier alle – wie sonst auch– spieltechnisch perfekt auf ihren Instrumenten unterwegs und Regevs Duelle mit dem harsch aufspielenden elektrischen Gitarristen Jean-Paul Borelly hatten viel treibenden Spaßfaktor. Aber man könnte mit so einem Potenzial doch viel mutiger aus einschlägigen Rockjazz-Schablonen ausbrechen. Auch das groß besetzte Projekt des italienischen Trompeten-Altmeisters Enrico Rava setzte auf altbewährte Breitwand-Arrangements – in denen immer mal diverse Pop-Zitate aufblitzten.

Auch die junge Szene aus der Region hatte in Münster ihr dankbares Spielfeld – und sie braucht sich neben den internationalen Größen in keiner Weise zu verstecken. Frederik Köster heißt ein Trompeter aus Köln, der soeben mit dem Westfalen-Jazz-Preis prämiert wurde. Dass dies zu Recht geschah, bewies er in Münster mit seiner Band „Die Verwandlung“, in der unter anderem der Pianist Sebastian Sternal und der allseits gefragte Schlagzeuger Jonas Burgwinkel mitmachen. Es sind junge Talente auf der Höhe der Zeit, die ein dezidiertes Jazzvokabular, aber auch Bach und die Neue Musik verinnerlicht haben und all dies mit ganz viel ungebremster Fantasie in den Dienst ihrer eigenen, hoch kommunikativen Sache stellen.

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