Aller guten Dinge seien drei, heißt es. Aber in „[the art of deleting]“ (Die Kunst des Löschens), das jetzt in der Reihe „zeitoper“ der Stuttgarter Staatsoper zur Uraufführung kam, bedeutet die Zahl Unheil: Dreimal findet der junge Ripper den Tod: Erst erschießt ihn eine mysteriöse Marienfigur, dann erdolcht er sein Alter Ego, und am Ende küsst ihn Gevatter Tod höchstpersönlich. Drei verschleierte Bräute sind es, in die sich Ripper verguckt und die sich mit einem Schlag in fiese, hässliche Furien verwandeln, die ihm die Kleider vom Leib reißen und ihn einfach so stehen lassen: in Strapsen. Peinlich. Denn die Öffentlichkeit schaut zu.
Es sind starke Bilder, die die amerikanische Regisseurin Lydia Steier für die Befindlichkeiten des tablettenabhängigen Antihelden Ripper gefunden hat. Der hat sich im Drogenrausch in eine virtuelle Parallelwelt verirrt, den Bezug zur Realität völlig verloren. Es sind trügerische Verlockungen, die ihn dorthin flüchten lassen. Denn hier ist niemand das, was er vorgibt zu sein. Ständig wechselt man die Identitäten, maskiert sich. Überall lauern Perversionen und nicht zuletzt der Tod.
Auf die Idee zu diesem zeitkritischen Musiktheater, das Rippers Geschichte in 20 kurzen Episoden erzählt, kam Lydia Steier durch eine reale Begebenheit. Im Jahr 2003 inszenierte ein 21-jähriger Amerikaner vor laufender Webcam und vor den Augen der Online-Community seinen langsamen Freitod durch Tabletten und kommunizierte währenddessen mit 47 Personen in einem Chatroom. Das Libretto (von Lydia Steier und dem Dramaturgen Xavier Zuber) besteht aus Fragmenten des Chatroom-Text-Konvoluts: aus internettypischen Floskeln und Sentenzen.
Aber es geht in „[the art of deleting]“ nicht nur um das WorldWideWeb. Man spielt das Stück im Stuttgarter AER-Club, implantiert den virtuellen Wahn so in die Clubszene, in der es nicht weniger um Rollenspiele, Rauschzustände und Wirklichkeitsferne geht. Das AER und sein schwarzes Innenleben aus Tanzfläche, Bar und den vielen Separées sind der perfekte Ort für dieses Stationendrama, das den gesamten Raum bespielt. Der Zuschauer als Voyeur steht mittendrin im Geschehen. Jedes Bild bietet eine neue Überraschung – und neue Kostüme von Siegfried Zoller, der sich mit viel Ironie an der amerikanischen Kitschästhetik orientiert hat.
Ein wenig erinnert Rippers Trip an Odysseus' Irrfahrt, nur das Ripper passiv bleibt und nicht auf Zyklopen oder Sirenen trifft, sondern auf Menschenungeheuer: auf Mäusefrauen, gesichtslose Schattengeister oder Krankenschwestern, die mit Riesenspritzen Fontänen aus den Brüsten schießen lassen (wunderbar: das Trio Kim Kreipe, Pia Stahl und Carmen Voigt). Und er begegnet seiner eigenen Vergangenheit: Sitzt mit Vater und Mutter am Frühstückstisch, da bricht das Abgründige hervor aus der Spießeridylle: Die Mutter fällt über den Sohn her, der Vater treibt's derweil mit der Kaffeekanne. Oder beide erscheinen als freundlich grinsendes Metzgerpaar mit blutigen Schürzen, das die Hackebeilchen schwingt und auf große Fleischklumpen donnern lässt.
Der amerikanische Komponist Dennis DeSantis, auch der DJ- und House-Kultur verbunden, hat zu dieser tiefgründigen Bilderfolge Musik geschrieben, die auf einen USB-Stick passt und zwischen beatbetonter Tanzmusik und verfremdeten Albtraum-Klangwelten hin- und herswitcht: Ein hybrides Sampling aus unterschiedlichen Sequenzen, die gemischt und überblendet werden und alles integrieren: Soul, Funk, Pop, experimentelle elektronische Musik und Sprachfetzen. Musikalischer Höhepunkt des Abends: Das Showdown der teuflischen Madonna, die einen Meter über dem Boden schwebend die Knarre zieht und alle Bühnenfiguren niederballert. Dazu Lichtblitzbeleuchtung aus dem Stroboskop und ein Elektrosound aus nadelstichigen Salven und tiefem Höllenjaulen.
Die drei live gesungenen Partien orientieren sich am amerikanischen Musical. Neben den beiden grandios mehrdeutig und gelegentlich lustvoll obszön agierenden Sängerdarstellern Eva Leticia Padilla und Motti Kastón, die in verschiedene Rollen schlüpfen, stemmt vor allem der charismatische Lockenkopf Christoph Sökler den Abend. Er spielt den Ripper mitreißend intensiv: immer hin- und hergerissen zwischen Staunen, Ekstase und ängstlichem Fluchtverhalten. Alles schweigt, als er einmal verstört in den Raum hineinfragt: "Hello, anyone awake?" Da wird die ganze innere Leere, die völlige Einsamkeit offenbar, die folgt, wenn die Realität einen wiederhat. Auch diese Szene wird noch lange nachwirken.
Zeitoper IX – [the art of deleting]
Ein Projekt der Staatsoper Stuttgart in Kooperation mit dem AER-Club StuttgartIdee und Regie: Lydia Steier
Komposition und Live-Electronic: Dennis DeSantis
Musikalische Einstudierung: Stefan Schreiber
Kostüme: Siegfried Zoller
Text: Lydia Steier, Xavier Zuber
Dramaturgie: Xavier ZuberMit: Eva Leticia Padilla, Motti Kastón, Christoph Sökler, Kim Kreipe, Pia Stahl, Carmen Voigt, Ilse Rucki, Tim Hauck, Mike Zimmermann, Helmar Paulokat, Ulli Lorenz