Für die einen ist es die Weiterentwicklung einer tragfähigen „Marke“ für Duisburg, für die anderen der Klau eines Namens für eine komplette neue Veranstaltung: Das Traumzeit-Festival im unvergleichlichen Ambiente der stillgelegten Duisburg Meidericher Hochöfen geht seit diesem Jahr neue Wege. Wo einst das Eisen geschmolzen wurde, da fusionieren heute Musik-Kulturen und Klänge. So war es seit 1993, so soll es künftig sein.
Eines vorweg: Dieses Bild erfüllte sich am letzten Abend des ersten „neuen“ Festivals aufs physischste: Thurston Moore und seine neue Band „Chelsea Light Moving“ lassen auf der Freiluftbühne in der ehemaligen Gießhalle ungeheure Klangmassen miteinander reagieren. Da ist sie wieder, aber lebt auch in dieser neuen Besetzung in einer extrem aufgeräumten Spielart weiter: jene bohrende punkrockige Intensität, jene Sonic-Youth-typische und stilprägende atonale Klangmagie auf merkwürdig „verstimmten“ elektrischen Gitarren – dies alles in knappen, explosiven Songformaten konzentriert. Diese Band gibt ihr äußerstes, liefert eine Sternstunde, die vielleicht noch einen würdigeren Platz als am späten Sonntagabend, wo viele schon nach Hause mussten, verdient gehabt hätte.
So sehr das neue Konzept und die neue Programm-Mischung beim aktuellen Traumzeit-Festival schon im Vorfeld kritisiert wurde, so stellt das neue Festival zumindest zahlenmäßig die Veranstaltern von Duisburg-Marketing zufrieden: Auf Anhieb konnten mal eben die Ticket-Verkaufszahlen verdoppelt werden. Die Spielstätten wurden ausgeweitet, sogar ein Campinggelände sollte für „echtes“ Festivalfeeling sorgen. Aber vor allem wird von nun an konzeptionell stark auf mal mehr, mal weniger konsensfähigen Pop gesetzt. Ein vertrauliches „sich Fallenlassen“ in ein Gesamt-Programm, das in jedem Moment überrascht und neue Horizonte eröffnet, wie es bislang beim Traumzeit-Festival wie bei jedem künstlerisch ambitionierten (Jazz-) Festival Standard war, funktioniert so nicht mehr – oder vielleicht noch nicht. Eher recherchiert man im Vorhinein, was sich lohnt und was nicht und reist dann nur für diese bestimmten Highlights an. So taten es viele Konzertbesucher – auch eine ganze Reihe Native Americans – die eben speziell für besagten Thurston-Moore-Auftritt und ausschließlich für diesen kamen. Oder zu jenem farbenprächtigen Auftritt von Coco Rosie, jenem träumerischen Schwestern-Duo aus den USA, dessen Auftritt sich in einen bizarren, verträumten, surreal-märchenhaften Kosmos abspielt.
Publikumsmagneten im Landschaftspark waren der gefragte Folkpop-Sänger Alex Care, dessen Stimme in der Kraftzentrale viel rauchige Wärme verbreitete oder die britische Alternative Band „The Editors“, die mit ihren neuen Songs augenscheinlich stärker aus dem ewigen Schatten von Joy Division heraustreten wollen, deren Musik dadurch aber auch etwas weniger eindringlich geworden ist. Viel Indiepop und anheimelnde Folkmusik schien den Wunsch vieler zufrieden wirkender Festivalbesucher nach Idylle und Besinnlichkeit, weniger nach Rebellion widerzuspiegeln. Wenn auch erklärtes Ziel bei der Konzeption war, sich von Nischen abzuwenden, um neues Publikum zu gewinnen, so wird das verdienstvolle Erbe der Festival-Vergangenheit nicht gänzlich ignoriert: Da lieferte etwa der franko-vietnamesische Nguyen Le seine bewährte Saiten-Artistik ab, auch gab ein Trio mit der Pianistin Hiromi eine fulminante Jazzrock-Sternstunde. Einer der spannendsten Brückenschläge kommt zurzeit vom Pianisten Kai Schumacher: Er studierte zwar die hohe Kunstmusik, aber er sog immer schon begierig alle Gefilde von Grunge und Heavymetal auf. Was lag also näher, als all dies in eine hochvirtuose, leidenschaftliche Pianistik zu übersetzen?
Nachdem im letzten Jahr der Hauptsponsor das Handtuch warf und dadurch dem bisherigen Leiter Tim Isfort die Möglichkeiten zur Fortsetzung seiner künstlerischen Weiterarbeit genommen waren, gibt es künftig keinen persönlich verantwortlich zeichnenden künstlerischen Leiter mehr. Vielmehr ist um den Festivalbüro-Leiter Frank Jebavy ein Team versammelt. „Wir wollen uns durchaus von einigen Nischen verabschieden“ gibt Jebavy zu – Konsensfähigkeit und Breitenwirkung ist angesagt. Verfeinerungspotenziale gibt es noch viele: Oft fanden sehr laute und eher leise Konzerte auf engem Raum nebeneinander statt. Die dänische Folksängerin Agnes Obel, deren Konzert zu einem der intimsten und fragilsten gehörte, deren kammermusikalische Poesie so ganz den kathedralenhaften Raum der Gebläsehalle ausfüllte und deren Stimme und expressives Klavierspiel so intensiv mit ihrer Cellopartnerin zusammen kam – sie war doch auf die Dauer etwas irritiert von den wummernden Bässen einer Freiluft-Darbietung nebenan.
Sie vergisst den Text eines ihrer wunderbarsten Songs, setzt mehrmals hintereinander an, bricht immer wieder mit kokettem Charme ab – endlich ist sie reingekommen, dann lässt ein unachtsamer Zuhörer ein Glas runterkrachen. Obel lacht sich kaputt, gibt auf, wechselt zu einem anderen Song. Manchmal braucht man eben Humor. Und für speziell dieses Konzert wäre eine bessere Tonabmischung einfach nur respektvoll den Musikern gegenüber gewesen, denn vor allem der Cello-Ton litt unter extremster Übersteuerung.