Wenn ein Opernhaus unter dem Stichwort Neue Musik keine Uraufführung in den Spielplan nimmt, sondern ein Werk von gesetzten 34 Jahren, dann braucht es einen Grund. Die Hamburger Staatsoper hat einen: War es doch ihr Intendant August Everding, der 1974 Aribert Reimann den Auftrag zu der Oper „Lear“ gab. Allerdings nahm Everding den Auftrag mit, als er an die Bayerische Staatsoper in München wechselte. Dort kam der „Lear“ 1978 heraus. Regie führte Jean-Pierre Ponnelle, die Titelpartie sang Dietrich Fischer-Dieskau, dem der Komponist die Anregung verdankte, Shakespeares Drama zu vertonen.
Ein Hauptwerk des von eingefleischten Avantgardevertretern geschmähten Genres Literaturoper, hat sich „Lear“ seither in zahlreichen Inszenierungen unter die erfolgreichsten zeitgenössischen Opern gespielt. Doch nach Hamburg hat er erst jetzt gefunden.
Auch ohne solch formale Überlegungen hat die Fassung, die die Regisseurin Karoline Gruber jetzt auf die Bühne des Hauses an der Dammtorstraße gebracht hat, alle Berechtigung. Im Verein mit einem sängerisch wie darstellerisch hervorragenden Ensemble und Simone Young am Pult der Philharmoniker Hamburg ist Gruber und ihrem Team eine packende, schlüssige und in geradezu bestürzender Weise auf das Wesentliche konzentrierte Deutung gelungen.
Das fing bei Roy Spahns Bühnenbild an. In schwarz und in einfachen Formen gehalten, lenkte es nie ab von dem Sog, den Gruber gleich zu Beginn auslöste. Für das erste Bild stapelte Spahn nur ein paar Quader im Stile des ehemaligen Bonner Bundestages zur Andeutung eines Auditoriums. Ganz oben saß, in sich gekehrt, der Narr (Erwin Leder). Die übrigen Beteiligten ließ Gruber einzeln auftreten und charakterisierte jeden von ihnen schon in den paar Schritten: ein virtuoses Eröffnungstableau und eine Visitenkarte für Grubers raffinierte Personenführung. Bo Skovhus als Lear begann seinen Sprechgesang mit hell timbriertem, klarem Bariton allein und unbegleitet. Doch die Anwesenden verdeutlichten die Wirkung der zwischen Traumverlorenheit und Anmaßung schwankenden Ansprache in Blicken und Bewegungen einzeln und als Gruppe, untermalt von den für die Tonsprache des Werks so typischen, bedrohlich wabernden Streicherclustern. Diese Spannung hielt den ganzen weiteren Abend hindurch.
Kostümbildnerin Mechthild Seipel hatte Lear in Bürokleidung und Reitstiefel gesteckt. Dieser Mann stand hörbar und sichtlich mitten im Leben. Gruber stellte nicht den Machtverzicht eines alternden Königs in den Fokus, sondern Lears existentielle Reise in die Erkenntnis – eine Reise, für die er mit dem Verlust seiner Sprache, seiner Identität und seiner drei Töchter bezahlen sollte. Ein Herzstück bildete denn auch die Szene, in der Lear bewusst wurde, dass sich sein Geist verwirrte: Gruber und Spahn illustrierten das mit Begriffen wie Verlust, Gericht oder König, auf Wände gedruckt oder projiziert, die sich fortwährend drehten. Dass sie zudem das Stück hindurch ähnliche, sich oft unmerklich verändernde Wörter wie ich – Reich - Recht auf die Bühnenrückwand projizierte, kann man allzu pädagogisch finden, doch illustrierten sie eindringlich Lears Zustand.
Wahn als Erkenntnis und Blindheit als Sehen in einem tieferen Sinne: Diese Spiegelungen bildeten den Kern von Grubers Lesart. Der Narr, für niemanden zu sehen als für Lear, umgab diesen als klarsichtiges, liebevolles Alter Ego und führte ihn im zweiten Teil durch seine Umnachtung. Mit leichter Hand präsentierte Gruber zudem eine doppelte Familienaufstellung, wobei ihr Reimanns leitmotivisch klare Figurenzeichnung zu Hilfe kam: hier Lears ungleiche Töchter, die macht- und männerhungrige Goneril mit riesigen Intervallsprüngen (Katja Pieweck), die sich hysterisch in Melismen verwickelnde Regan (Hellen Kwon) und die jüngste, lyrisch-zarte Cordelia (Ha Young Lee) - und dort Lears Getreuer Graf Gloster (Lauri Vasar) samt dem legitimen Sohn Edgar (Andrew Watts) und dem eifersüchtigen Kegel Edmund (Martin Homrich). Dessen Intrige sollte der Vater zum Opfer fallen: In der markerschütterndsten Szene der ganzen Oper wurde er geblendet. So trafen sich in der sturmumtosten Heide, von Reimann in weit aufgespreizten Clustern und Schlägen von Blech und dumpfen Trommeln beschworen, der sehend Realitätsblinde und der Verständige ohne Augenlicht.
Die Oper ist für die Sänger eine stimmliche Parforcetour an Beweglichkeit, Tonumfang und oft schierer Lautstärke. Sie bewältigten sie bewunderungswürdig. Stellvertretend sei hier nur der Countertenor Andrew Watts genannt. Ohne erkennbare Anstrengung wechselte er die Lagen zwischen der von Glosters verstoßenem Sohn Edgar und den wesentlich höheren Vokalisen des Irren Tom, als der sich Edgar seinem blinden Vater gegenüber ausgibt. Wie Tom/Edgar den lebensmüden Vater am Selbstmord hindert, ohne ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, das gestaltete Watts zutiefst anrührend.
Zwar hätte man sich den Opernchor als Gefolge und das Orchester mitunter etwas deutlicher artikuliert vorstellen können. Doch leuchteten Young und die Musiker die Partitur vom Lamento der Bassflöte bis zu den gequälten Aufschreien der Holzbläser instrumental beeindruckend farbig aus.
Wie so oft bei Shakespeare endete das Ganze mit einem wahren Kahlschlag. Übrig blieben nach all dem Morden Lear, Edgar und Gonerils Witwer Albany. Und ganz oben, im Licht, hockte der Narr. Wie ein Sinnbild der Transzendenz, die das Orchester in hellen, aufsteigenden Clustern und Harfenklängen andeutete und mit denen das Stück sein Publikum in die Nachdenklichkeit entließ.