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Vom Schlachtfeld durch die Betten zur Kanzel: Henri Sauguets Grand Opéra „La Chartreuse de Parme“ in Marseille

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Stendhals weit verästelter und vielschichtiger Roman „Die Kartause von Parma“ entstand in den späten 1830er Jahren. Er erschien drei Jahre vor dem Tod des Autors, der eigentlich Marie-Henri Beyle hieß und sich in der letzten Phase seines Lebens intensiv mit der Geschichte Oberitaliens befasste. 1939, genau hundert Jahre später, wurde in Paris eine Opernversion dieses Sittenbildes aus den Zeiten der napoleonischen Kriege und der frühen Restaurationsepoche präsentiert: Armand Lunel, hauptberuflich Philosophieprofessor, reduzierte Stendhals ausschweifenden Kommentar zur Zeitgeschichte im wesentlichen auf die vertrackten Liebesaffären des Offiziers und nachmals zu kirchlichen Würden gelangenden Fabrice de Dongo. Der turtelte einerseits mit seiner zunächst noch jugendfrischen Tante Gina, engagierte sich andererseits u.a. hinsichtlich der ebenfalls der oberitalienischen Aristokratie entstammenden frommen Generalstochter Clélia Conti.

„La Chartreuse de Parme“, das musikdramatische Hauptwerk des aus Bordeaux stammenden Organisten und Komponisten Henri Sauguet (1901–1989) war die letzte große Premiere vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris und verschwand mit der deutschen Besatzung vom Spielplan der Opéra. Nachdem man sich an die auf den großen Stendhal-Text gestützte Oper dann 1968 anlässlich der Olympischen Winterspielen in Grenoble wieder erinnerte, wurde sie jetzt in Marseille von Renée Auphan szenisch reaktiviert. Bruno de Lavenère sorgte für den ansprechenden optischen Rahmen: Die elf Tableaus, die mehrfach fein ausgezeichnete Genrebilder zwischen Kutsche und Couch entfalten, erscheinen fast durchgängig in Bildsegmenten, vermittels derer Straßen- und Gesellschaftsszenen in Uniformen und Mode des frühen 19. Jahrhunderts skizziert werden – so, dass immerhin die Illusion entsteht, die wichtigsten Stationen der Liebe und Entsagung von Fabrice und Clélia stünden in einem plausiblen Zusammenhang.

Henri Sauguets im Prinzip tonale, aber durch seine Verehrung für Erik Satie harmonisch angereicherte und durch vielerlei Reizdissonanzen aufgeweckte Musik bleibt hinsichtlich der Erregung und Kommentierung großer Leidenschaften weit deutlich unter dem Level Verdis und den Höchstpegeln Puccinis, entwickelt aber einen denkwürdigen kleinbürgerlichen Realismus mit scharfer Zeichnung charakteristischer Figuren. Sauget, obwohl überwiegend ein distinguierter Tonsetzer auch von Kirchen-, Konzert und Kammermusik, scheute die Berührung mit der Sphäre des Populären und Vulgären keineswegs. Während seine musikalische Charakterisierung des mondänen Mailand und des Treibens in den Logen der Scala eher matt bleibt (und etwas verkleinbürgert wirkt), gewinnt die duodezfürstliche Welt von Parma schärfere Konturen.

Die Volksszenen konstituieren freilich die gelungensten Momente. Zum Beispiel bei jener Episode im 2. Akt, in welcher der Tenorheld – Sébastian Guèze stellt dies mit jugendlicher Unbeschwertheit und leicht geführter Stimme glänzend dar – wegen eines in der Rivalität um eine „kleine Tänzerin“ begangenen Tötungsdelikts gesucht wird, bei seinem früheren Kutscher und dessen Frau an der Landesgrenze des Fürstentums Zuflucht findet. Oder wenn dem Helden des napoleonischen Schlachtfelds und der Salons, nachdem er den Gendarmen doch noch ins Garn ging, die Gefängniswärter zusetzen.

Einer historisch-romantischen Auffassung von Liebe ist der Schluss von Roman und Oper geschuldet: Nur im Verzicht, so die von Stendhal womöglich ironisch gemeinte Botschaft, könne „selige Liebe“ erlangt werden. Und so wölbt sich die Entsagungsmusik zur Licht- und Abschiedspredigt des Weihbischofs Fabrice, der Clélias Abstinenzgelübde nach einem letzten Rendezvous akzeptiert und sich in die Kartause zurückzieht.

Aus dem nicht ganz homogenen Ensemble in Marseille ragen neben Guèze die Mezzosopranistin Marie-Ange Todorivitch als Herzogin Gina Sanseverina und der alte Bass-Haudegen Jean-Philippe Lafont als Général Conti vorteilhaft hervor. Vom Kolorit der politischen Wirren und gesellschaftlichen Verwerfungen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hat sich das von Sauguet komponierte Text-Kompilat des Philosophieprofessors Armand Lunel, obwohl es ganz auf die Emotionen der Protagonisten abheben wollte, mehr bewahrt als z.B. Francesco Piaves Saavedra-Bearbeitung für Verdis „Macht des Schicksals“. So präsentiert die Opéra Marseille unter der umsichtigen Leitung von Lawrence Foster eine veritable Delikatesse, die auch anderswo die Opern-Gourmets verwöhnen könnte: ein Zwischenkriegsgut der oberen Güteklasse.

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