Die Musikszenen im deutschsprachigen Raum waren zwischen 1918 und 1939 – insbesondere bis 1933 – vielfältig, wild, bunt und lebendig. Das Gleiche gilt auch für die Musikpublizistik der Zeit, die die musikalischen Entwicklungen, mal eifrig verteidigend, mal vehement bekämpfend, kommentierend begleitete. Die angesprochene Vielfalt und Vitalität äußerten sich schon in der schieren Zahl publizistischer Möglichkeiten: Neben dem klassischen Feuilleton der Tageszeitungen boten (Fach-)Zeitschriften, Bücher, Konzertprogramme und -einführungen, öffentliche und anschließend gelegentlich abgedruckte Vorträge und ab 1923 auch der Rundfunk Raum für das öffentliche Sprechen und Schreiben über Musik.

Die Musikkritikerin und -wissenschaftlerin Elsa Bienenfeld (1877–1942), ermordet im KZ Maly Trostinez. Foto von 1927: Georg Fayer/HMTM
Vorkämpfer der musikalischen Moderne
Bereits die deutschsprachigen Musikzeitschriften deckten ein breites Spektrum ab. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wuchs ihre Anzahl stetig an und erreichte in den späten 1920er-Jahren mit mehr als 100 verfügbaren Titeln einen Höchststand. Unter den Zeitschriften fanden sich Vorkämpfer der musikalischen Moderne wie die Musikblätter des Anbruch (1919–1937) und Melos (1920–1934), Traditionsorgane wie die (Neue) Zeitschrift für Musik (seit 1834), die in den 1920er-Jahren antimodernistische Positionen vertrat, wissenschaftliche Publikationsorgane wie die Zeitschrift für Musikwissenschaft (1918–1935), regelmäßige Vereins- und Verbandsmitteilungen sowie eine Reihe von Spezialpublikationen zu bestimmten Themengebieten und/oder für bestimmte Regionen, etwa die Münchner Zither-Zeitung (1921–1930).
Meinungspluralismus
Die Musikpublizistik der Zwischenkriegszeit, so viel sollte aus dem Skizzierten bereits deutlich werden, bildete eine heterogene Öffentlichkeit und richtete sich an eine solche. In ihr spiegelte sich ein Meinungspluralismus, der durch die demokratische Öffnung der Gesellschaft ab 1918 ermöglicht wurde und ab 1933 mehr und mehr zum Erliegen kam.
Musikkritik
Ein verbindendes Merkmal vieler publizistischer Äußerungen zur Musik war die Kritik, sofern hierunter öffentliche Urteilsäußerungen über musikalische Leistungen, Werke, Stile, Einrichtungen oder Zustände verstanden werden. Musikkritikerinnen und -kritiker setzten sich mit den Umbrüchen, Veränderungen und Neuerungen der Zeit auseinander und nahmen durch ihre Artikel und Rezensionen maßgeblich Einfluss auf ästhetische Diskurse, die breitere Wahrnehmung von Komponistinnen und Komponisten, Werke und Strömungen. Auffällig – und gänzlich anders als heute – war dabei die Fluidität, mit der Personen zwischen unterschiedlichen „Bubbles“ wechselten: so war es für Professoren der Musikwissenschaft (Professorinnen waren in den 1920er- und 30er-Jahren noch nicht berufen) kein Widerspruch, sich häufig und prominent in Tageszeitungen zum aktuellen Musikgeschehen zu äußern und gleichzeitig eine erfolgreiche akademische Laufbahn zu verfolgen, wohingegen Berufskritikerinnen und -kritiker umgekehrt auch in Fachzeitschriften publizierten. Komponistinnen, Musiker, Journalistinnen, Dirigenten und Musikwissenschaftlerinnen – viele nahmen aktiv an der Musikkritik teil.
Diese Aufwertung der Musikkritik spiegelt sich nicht nur personell, sondern auch institutionell, indem mit dem 1913 gegründeten Verband deutscher Musikkritiker e. V. erstmals ein Berufsverband bestand, der die Interessen von Kritikerinnen und Kritikern vertrat und die Stellung des Berufs in der Tagespresse verbessern sollte. Dass die Verbandstätigkeit sich speziell mit der Situation in Tageszeitungen befasste, hatte durchaus ihren Grund: anders als die in kleinen Auflagen erscheinenden Fachzeitschriften (Anbruch und Melos hatten beispielsweise eine Auflagenhöhe von 2.000 Exemplaren) wurden die Feuilletons der Tagespresse breit rezipiert und waren die konkurrierenden Foren der öffentlichen Meinungsbildung. Der Verband, der 1930 138 Mitglieder zählte, darunter Paul Bekker, Alfred Einstein, Theodor W. Adorno, Karl Holl, aber auch Fritz Stege, wurde 1933 aufgelöst. Stege wurde nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit dem Aufbau einer personell „bereinigten“ Nachfolgeorganisation beauftragt.
Vergessene Kritiken – vergessene Biografien
Anders als die verhältnismäßig leicht zu lokalisierenden Artikel in den einschlägigen Fachzeitschriften, sind die in Tageszeitungen erschienenen Aufsätze und Kritiken nahezu unbekannt. Selbst für prominente Kritikerpersönlichkeiten wie beispielsweise Alfred Einstein liegen keine Editionen oder Verzeichnisse vor, in denen ihre Zeitungsartikel (mehr oder weniger) vollständig versammelt oder aufgeführt wären. Geplant ist daher zum einen eine Edition mit Artikeln bekannter und weniger bekannter Kritikerinnen und Kritiker aus dem Zeitraum 1918 bis 1939, die unverfälschte Eindrücke in die Stimmungs- und Diskussionslage gewähren. Zum anderen werden die Biografien von Kritikerinnen und Kritikern aufgearbeitet, die heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als vergessen gelten dürfen. Hier gilt es, besonders an jene Kritikerinnen und Kritiker zu erinnern, die aufgrund ihrer künstlerischen und kulturpolitischen Ansichten und/oder ihrer jüdischen Herkunft verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden.
Ya‘qub El-Khaled, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ an der HMT München
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