Dresdens Image ist hin. Für Weltoffenheit steht derzeit nichts oder zumindest nicht viel im Elbtal von Sachsen. Bloß gut, dass der Ruf als Kunst- und Kulturstadt noch funktioniert; den Bühnen, Kunstsammlungen und der Orchesterlandschaft sei Dank. Sie werden auch weiterhin Anziehungspunkte der Stadt sein und Menschen aus aller Welt über gewisse Phobien kleinstgeistiger Zeitgenossen hinwegsehen lassen, um dennoch nach Dresden zu reisen und an den Schätzen einer reichen Tradition teilzuhaben.
Es sei dahingestellt, inwiefern Minderheiten einer Kommune für das große Ganze stehen sollen und umgekehrt die Allgemeinheit Entgleisungen von Randgruppen verantworten muss, doch leicht wird es gewiss nicht sein, die in den vergangenen Monaten angerichteten „Ida“-Schäden zu beheben. Es geht allerdings nicht ums kleinliche City-Image, sondern um lebbare Ideen für ein menschliches Miteinander von Kulturen und Nationalitäten. Also um Zukunft. Täglich neu verinnerlichte Aufklärung als bestmögliches Mittel zum Zweck ist nicht von irgendwoher zu verordnen, sondern will immer wieder selbst erfahren sein.
Während bange deutsche Gemüter ausgerechnet dort vor der vermeintlichen Islamisierung des Abendlandes zu warnen versuchen, wo die einzig sichtbare „Moschee“ eine einstige Zigarettenfabrik aus dem vorigen Jahrhundert ist, durften just im sogenannten Morgenland die Musikerinnen und Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden erfahren, wie eine wirklich multikulturelle Welt funktioniert. Zum Auftakt einer mehrwöchigen Asien-Tournee gastierte das Orchester in den Vereinigten Arabischen Emiraten und wirkte zu den Abu Dhabi Classics als kultureller Botschafter eines anderen, eines weltoffenen Dresden. Die einheimischen Veranstalter wollen die Hauptstadt des gleichnamigen Emirats ganz bewusst als kulturelles Zentrum und Drehscheibe der Künste gestalten, daher setzen sie auf höchste Qualität und große Namen. Dass die Staatskapelle nun aber mit den 1945 entstandenen „Metamorphosen“ von Richard Strauss und ausgerechnet der 9. Sinfonie von Anton Bruckner im Emirates Palace gastiert, überrascht dann doch – zumindest auf den ersten Blick.
Das getragene Konzertstück für 23 Streicher mit dem Sinnieren eines Elfenbeintürmers mitten in Zeiten von Krieg und Verfolgung („Mein schönes Dresden-Weimar-München, alles dahin!“), dazu das brausend „dem lieben Gott“ geweihte Zweifeln und Zagen eines strengen Katholiken – und all dies in der Welt des Islam? Aber ja, denn in den Emiraten ist vieles möglich, was anderen Ländern des Mittleren und Nahen Ostens obsolet erscheinen mag.
Obwohl die Staatsgründung der Vereinigten Arabischen Emirate erst 1971 erfolgte, scheint das Land am Persischen Golf heute schon in der Zukunft angekommen. Das schließt die enge Bindung an kulturelle und somit auch religiöse Traditionen nicht aus. Im Gegenteil, kaum anderswo ist die Dichte von Moscheen so hoch wie im Stadtgebiet von Abu Dhabi, der Hauptstadt des gleichnamigen Emirats. Es ist das größte im vereinigten Staatsgebiet und stellt von jeher auch die Herrscherfamilie sowie den Präsidenten in dieser konstitutionellen Monarchie.
Ganz bewusst werden in diesem Schmelztiegel von Kulturen und Nationalitäten liberale Verhältnisse gelebt und propagiert. Der Ölreichtum ist zwar die Basis für das wirtschaftliche Emporschnellen des Wüstenstaats, in dessen Städten nach wie vor eine rasante, himmelwärts strebende Bautätigkeit herrscht. Doch neben purer Effizienz wird auch auf ökologische Weitsicht gesetzt. Besonders Abu Dhabi entwickelt sich in mehrfacher Hinsicht „grün“ und setzt auf die irgendwann anstehende Zeit nach dem Öl. Zwischen Küste und Wüste gibt es zahlreiche Parkanlagen, die Aufbereitung von Salz- und Brauchwasser macht’s möglich. Die nahegelegene Ökostadt Masdar City orientiert komplett auf erneuerbare Energien und hat sich binnen weniger Jahre zu einem international anerkannten Forschungszentrum etabliert. Und die Kultur?
Auf dem künstlich erweiterten Eiland Saadiyat („Insel des Glücks“) entstehen Dependancen von Louvre und Guggenheim, wachsen Nationalmuseum und großartige Konzertstätten heran. Die Eröffnungen sollen im Abstand von jeweils nur einem Jahr stattfinden. Irgendwann wird es hier vielleicht auch ein eigenes Orchester geben.
Beim nun bereits dritten Aufenthalt der Sächsischen Staatskapelle wurde kürzlich zu den Abu Dhabi Classics im gigantischen Emirates-Palace-Komplex musiziert. Ein gewaltiger Saal inmitten des derzeit vielleicht luxuriösesten Hoteltempels (der ursprünglich ein Herrscherpalast werden sollte und heute großspurig mit sieben Sternen beworben wird!). Das erwartungsfrohe Publikum darin multinational, die Kleiderordnung so bunt wie das Leben: Damen im kleinen Schwarzen, Mädchen in Jeans, einige Frauen in Burka und viele mit schick modischen Schleiern; Herren in der leuchtend weißen Kandura neben Anzugträgern aus aller Welt, unangenehm instinktlos freilich auch eine Horde Uniformträger der deutschen Bundeswehr mittendrin.
Pausen-Champagner gab es dort ebenso wie müffelndes Popcorn. In solchem Ambiente ausgerechnet mit den „Metamorphosen“ von Richard Strauss zu eröffnen und dann noch die 9. Sinfonie des Erzkatholen Anton Bruckner draufzusetzen, das zeugt von hoher Ambition. Man hätte es sich wesentlich leichter machen können, aber Beliebigkeit war nicht gefragt. Nicht bei der Kapelle und nicht beim Veranstalter, der große Namen und höchste Qualität in Abu Dhabi haben will.
Nach dem mit stehenden Ovationen bedachten Konzert sprach Orchesterdirektor Jan Nast apostrophiert von „musikalischen Kreuzrittern“ und verwies stolz auf den mehrfachen Nutzen einer solchen Tournee. „Kommen, spielen und gleich wieder gehen, das ist nicht unser Ziel. Wir wollen Kulturaustausch mit Nachhaltigkeit betreiben,“ zog er eine erste Bilanz.
Diese inhaltliche Bedeutung kam auch dem nächsten Auftritt von Christian Thielemann und seinem Orchester bei, als in der Oasenstadt Al Ain open air Werke von Liszt, Wagner und Strauss aufgeführt wurden. Wagner in der Wüste, das „Siegfried-Idyll“ dürfte im historischen Al Jahili Fort ebenso eine Erstaufführung gewesen sein wie „Orpheus“ und „Ein Heldenleben“.
Auch hier, unmittelbar an der stark gesicherten Grenze zum Oman, war das Publikum so bunt gemischt wie begeistert. Und als sich Muezzin-Rufe in die „westliche“ Musik mischten, entlockte das nicht nur dem Dirigenten ein Lächeln – die Gleichzeitigkeit der Kontraste hat gut funktioniert.
Mit im Gepäck dieser Reise – und dies durchaus auch aufklärerisch gedacht – war zum ersten Mal die „Kapelle für Kids“. In Dresden wird sie von Musikern der Kapelle für Schulkinder, Eltern und Lehrer offeriert. In Abu Dhabi ermöglichte sie Schülerinnen und Schülern ein Kennenlernen der klassischen Musik. Eine Reihe arabischer Studenten kamen zudem an der Universität von Al Ain in Berührung mit „westlichem“ Instrumentarium. Musiker der Kapelle haben sich dort mit ihrem Beruf vorgestellt.
Immerhin, die sächsischen Musiker haben Dresdens Image im Morgenland gründlich aufpolieren können. Anschließend reisten sie nach Yokohama und Tokyo, wo die Kapelle längst zu begehrten Stammgästen zählt. Ein Novum wird an den beiden letzten Februar-Tagen noch Hongkong sein, denn auch dort sollen „Kapelle für Kids“ und Meisterkurse gezielt das jüngere Publikum ansprechen.
Wäre doch schon, wenn sich herumspricht, dass Weltoffenheit mehr ist als nur der eigene Blick ins Reisebüro – sondern gelebtes Miteinander bedeutet. Dann kommt die Welt auch gerne nach Dresden. Kunst und Kultur sind hier schon viel weiter als Straßenvolk und Politikerstammtische.