Gluck-Opern sind langweilig? Was für ein Vorurteil! Der einstige Reformer des Musiktheaters steht zwar an der Schwelle zum Neuen und damit tragischerweise ein wenig im Schatten dessen, was durch ihn erst möglich werden sollte, doch Langeweile dürfe beim Bühnenwerk dieses vor 223 Jahren in Wien verstorbenen Genies nicht aufkommen. Meint jedenfalls Regisseur Peter Konwitschny. Sollte Gluck heute dennoch zum Gähnen geraten, dann sei er halt schlecht inszeniert. Lieblos und geistlos etwa. Das nähre die schlechten Vorurteile natürlich.
Ganz überraschend klang es nicht, dieses provokant-mutige Verbal-Entree zur ersten Neuinszenierung des Chefregisseurs auf der großen Bühne der Oper Leipzig.
Peter Konwitschny und Leipzig, das sind bisher mindestens zwei feste Verbindungen. An der dritten wird derzeit gebaut. Einmal die prägende Kindheit und Jugend des Sohnes von Gewandhauskapellmeister Franz Kowitschny (woraus nicht zuletzt profunde Musikkenntnisse resultieren), zum anderen aufsehenerregende, ja bleibende Inszenierungen in den 1990er-Jahren („La Bohème“, „Eugen Onegin“ u.a.). Seit knapp zwei Jahren ist er nun Chefregisseur der Oper Leipzig, wohin in der Zwischenzeit ausgewählte Produktionen umgesetzt wurden, die ursprünglich etwa für Graz und Hamburg realisiert worden sind. Neue Arbeiten blieben bislang auf kleinere Spielstätten des Hauses beschränkt.
Mitte April war nun mit „Alkestis“ (Alceste) von Christoph Willibald Gluck das erste originär Leipziger Großprojekt zu besichtigen – und es soll zugleich der theatrale Grundstein für ein denkmalgleich zu errichtendes Bühnenspiel sein, das auf die kommenden Jahre geplant ist. Mit diesem Vorhaben ging Peter Konwitschny seit langer Zeit schwanger, gedanklich, es soll – in Richard Wagners Geburtsstadt zumal – auf mindestens „Ring“-Größe angelegt sein. Gluck kommt auf den Prüfstand, Wagner wird in die Ecke gestellt. Und siehe da, auf dem „Alkestis“-Programmheft prangt in Ein-Cent-Maßen ein Logo mit dem Schriftzug „Gluck-Ring 1“. Kritischen Nachfragen wird beschieden, dass 2013 alle Welt den Wagner-„Ring“ bringen werde, man ihn also leicht „über bekommen“ könne. Ein berechtigtes Argument – überall, nur nicht in Leipzig!
Auf dem Weg in die Moderne
Doch die Würfel sind gefallen, nach Händels „Admeto“ (Premiere im März, Inszenierung Tobias Kratzer) kam nun Glucks „Alkestis“ heraus, um denselben Mythos ein zweites Mal zu sichten. Was darauf folgen soll, sind bereits im Herbst 2010 „Iphigenie in Aulis“ sowie in den kommenden Spielzeiten „Iphigenie auf Tauris“ und „Armida“. Eine Gluck-Tetralogie, die es tatsächlich so ähnlich schon einmal gegeben hat, als im Januar 1881 (zusammen mit „Orpheus und Eurydike“) unter Angelo Neumann ein Gluck-Zyklus in Leipzig gespielt wurde. Konwitschny heute ergänzt die Deutung von Mythen in genau einem Jahr mit Straussens „Elektra“. Das kann spannend werden, sehr spannend sogar, wenn – ja wenn nicht die Diktion der eben gehobenen „Alkestis“ pur fortgesetzt wird.
Das titelgebende Frauenopfer wird ja nicht erst seit der Wiener Uraufführung von 1767 in Frage gestellt, auch die neun Jahre später erfolgte Überarbeitung für Paris distanziert sich deutlich von der Euripides-Version dieses Ewigkeitsstoffes. Dank Peter Konwitschny durfte nun eine Leipziger Fassung erlebt werden, die in etwa aus den ersten beiden Akten des Wiener Originals plus dem Pariser Schlussakt besteht. „In etwa“ meint, dass italienisch begonnen wird (mit Übertiteln), später ein italienisch-deutscher Dialog stattfindet (in dem oft aneinander vorbeigeredet wird) und dann ein deutschsprachiges Ende erfolgt. Ein deutsches Ende …
Der sterbenskranke König Admetos, vortrefflich gesungen und überzeugend dargestellt vom Belgier Yves Saelens als Gast, ist in der Frühzeit humaner Vergesellschaftung von seinem Volk umgeben. Chor und Kinderchor sind sehr stimmig geführt und somit schon weit entfernt vom antiken Kommentar-Chor; da wird wirklich gespielt und gelitten. Das Orakel verkündet das Sterben des Königs, wenn sich niemand für ihn opfert. Die Gattin Alkestis (zu kraftvoll eingestiegen, bald darauf mit ihrer schönen Silberstimme zu wenig präsent: Chiara Angella, die aber eine grandiose Darstellerin ist) wundert sich noch, dass sich kein Freund dazu bereit findet, da wird ihr klar, dass nur sie ihn so sehr liebt, um diesen Schritt zu gehen. Die Götter nehmen das Opfer an, und während Alkestis gen Hades fährt, feiert das Volk die Auferstehung des Königs. Der muss erfahren, dass es seine eigene Gemahlin, die sich für ihn wer geopfert hat. Das will er nicht zulassen, denn wie soll er leben ohne sie? Ihm scheint auch nicht recht zu sein, dass eine Frau selbstständig entscheidet – und die Konsequenz dieser Entscheidung ihn zum frühen Witwer machen würde.
Das alles ist in grauer Vorzeit angelegt, archaisch, einschließlich eines martialischen Rituals mit – wie stets, bei Tieren im Theater – zu Unzeiten blökendem Bühnen-Schaf, was immerhin von der lauen Intonation des hütenden Oberpriesters (Jürgen Kurth) ablenkt. Mit Trubel und Kindergeschrei wird das Opferlamm geschächtet, ihm entsprudelt viel künstliches Blut. Ganz zuletzt pflanzen römische (!) Legionäre ihre Zeltstätten auf. Ein „Ring“ von Hellas Richtung Asterix …
Die Unvereinbarkeit von Liebe und Macht
Nach der teils langatmigen, psychologisch aber sehr genau gezeichneten Introduktion vor träge fließenden Himmelsprojektionen beherrschen plötzlich schrille Farben und hektisches Tempo das Bühnengeschehen. Die antike Personage wird ein paar Jahrtausende ins Vorwärts gezwungen, das Volk steigt aus den Zottelfellen, hat Jeans, bunte T-Shirts und Basecaps an. Was es nun singt, kommt nicht mehr aus dem Innersten, sondern wird ihm mit Tafeln angezeigt. Wir sind – in einer Fernseh-Show! Und haben etwa zwei Deutungen frei:
- Die Mythen sterben erst heute, im Unterhaltungszeitalter. Dafür aber gründlich.
- Vor der Kamera sind alle gleich. Ob Königspaar oder Plebejer, die Pixel kennen keinen Unterschied und zeigen die Nacktheit der Seelen.
Tatsächlich wird der dritte, der ursprüngliche Pariser Akt, in die Jetztzeit gelegt, die vorgeblich moderne. Alkestis stöckelt darin auf hohen Absätzen herum und kann sich dort nicht bewegen, auch Admeto bleibt Fremdwesen. Sowieso sind beider Kinder ziemlich ausgeliefert (wieso in der Stadt des Thomanerchors hierfür nicht stimmigere Protagonisten gefunden worden sind, bleibt eines der Rätsel dieses Bühnen-Freispiels). Admetos Freund Herkules will aber ins Geschehen eingreifen und helfen, schwingt im Löwenkostüm die gewaltige urzeitliche Keule, die zugleich Mega-Mammut-Phallus als auch Mikrofon und somit Bindeglied ins Heute ist. Ryan McKinny singt diesen Part so kraftvoll wie anständig, er ist auf das Niveau eines Thomas Gottschalk drapiert; sein Antipode Charon wird von Goldlocke schlagkräftig überwunden. Dazu klatschen und feiern die Chorleute so brünstig, wie anderes Volk im Studio tagtäglich Seelen-Striptease beglotzt. Gott Apollo (Tomas Möwes als Deus ex machina in gekonnter Ironie) segnet das Treiben distanziert von der Loge aus ab.
Peter Konwitschny hat (wie beispielsweise schon in seinen Hamburger „Meistersingern“) scheinbar konventionell, doch präzise begonnen, um dann effektvoll in die Trickkiste zu greifen und die Heutigkeit der Tragödie zu deuten. Die Regie-„Keule“ dieses Kenners würde nie die Musik schlagen, nur um die Unvereinbarkeit von Liebe und Macht zu betonen. Er geht sogar weit in die einstige Opernpraxis und holt ein Ballett auf die Bühne. Das umtanzt die Schlacht in der Unterwelt – womit nun der Hades ebenso wie die Herkules-Show von Hercool-TV gemeint sein kann. Eine bekannte Sentenz steht dadurch in neuem Licht: Fernsehen macht blöde? – Blöde machen Fernsehen.
Die Königsfamilie bleibt dieser Welt fremd, wird in Geschenkfolie drapiert, wir erwarten die Fortsetzung des „Rings“ mit anderen Mitteln. Dass dieses Finale, in dem Gluck schon eine Spur fortgeschrittener klingt, aus der Mythenwelt in die Moderne gehoben wird, mag schlüssig sein. Wir unterhalten uns zu Tode. Es täuscht nicht darüber hinweg, dass uns hier ein schon angeschlagener Spiegel vorgehalten wird. Medienschelte als Gesellschaftskritik, aha.
Die Premiere stand musikalisch unter diffusen Vorzeichen, da der griechische Dirigent George Petrou, wie es hieß, recht kurzfristig für Paolo Carignani eingesprungen sei. Da er aber ohnehin für eine Folgeaufführung vorgesehen war, wäre eine konzentriertere Koordination vor allem des Orchestermaterials zu erwarten gewesen. Das Gewandhausorchester leistete sich erstaunliche Intonationsbrüche, geriet teils heftig mit dem so gut präparierten Chor aneinander und war auch in den eigenen Reihen indifferent. Schade ums Schaf. Mit ihm stirbt auch ein Mythos.
Wieder am 29. April, am 6., 14. und 28. Mai sowie am 18. Juni 2010
Oper Leipzig